Süddeutsche Zeitung

Krieg in der Ukraine:"Ich sehe derzeit nicht die Kapazitäten für eine russische Offensive"

Steht die Schlacht um Cherson bevor, oder greift die Ukraine doch Mariupol an? Und was ist die langfristige russische Strategie? Sicherheitsexpertin Sarah Pagung über die aktuelle Lage in der Ukraine.

Von Nicolas Freund

Es ist auffällig, wie ukrainische Autoren die Lage in ihrem Land immer wieder mit einer Metapher des Atmens beschreiben: Serhij Zhadan schrieb auf Twitter in den ersten Wochen des Krieges, die Stimmung sei ängstlich, "wie die Lunge eines Mannes, der die Luft anhält". Und der neue Essay-Band der Schriftstellerin Tanja Maljartschuk trägt den Titel: "Gleich geht die Geschichte weiter, wir atmen nur aus".

Das Atmen fällt schwer unter russischen Bombardements und Luftangriffen, der Krieg zwingt der Ukraine einen eigenen Rhythmus auf, und gerade scheint wieder ein Punkt erreicht, an dem das ganze Land die Luft anhält. Aus der Region um die besetzte Großstadt Cherson wird seit Tagen von Rückzugsbewegungen russischer Truppen berichtet. In sozialen Netzwerken kursieren Bilder und Videos verlassener Verwaltungsgebäude und Checkpoints. Es gibt aber auch Berichte über systematische Plünderungen und russische Soldaten, die sich in Häusern verschanzen und auf einen Häuserkampf vorbereiten.

Rätselhafter Rückzug

Die ukrainische Armee hat schon vor Monaten eine Offensive bei Cherson angekündigt und versucht, mit gezielten Raketenangriffen die russischen Versorgungslinien zu stören, um die Besatzer so zum Rückzug zu zwingen. Geht diese Strategie auf? Oder ist der vermeintliche Rückzug nur eine Falle, wie eine Sprecherin des ukrainischen Verteidigungsministeriums vor ein paar Tagen vermutete? "Die Russen bereiten sich bei Cherson auf einen geordneten Rückzug vor, damit ihnen nicht passiert, was bei Charkiw passiert ist, nämlich ein panikartiger und ungeordneter Rückzug, bei dem eine Vielzahl von Equipment und militärischem Material zurückgelassen wurde." Das sagt Sarah Pagung, Expertin für russische Sicherheitspolitik bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik.

Pagung hält Rückeroberungen der ukrainischen Armee in der Region für durchaus möglich. "Es gibt seit August eine Offensive im Süden, die aber nicht die Erfolge hatte wie im Nordosten bei Charkiw, was auch damit zu tun hat, dass Russland seine fähigen Kräfte in den Süden verlegt hat. Trotzdem sehen wir einen langsamen Vorstoß der ukrainischen Kräfte, und die Chance einer Rückeroberung ist sehr gut, was aber nicht bedeutet, dass es auch so kommen wird."

Aber die russische Armee wird Cherson und die Ufer des an dieser Stelle bis zu einem Kilometer breiten Flusses Djnepr, der eine natürliche Verteidigungslinie bildet, wohl nicht einfach so aufgeben. Der Verlust Chersons wäre strategisch und symbolisch ein schwerer Schlag: Über den Dnjepr gelangt auch ein großer Teil des Trinkwassers auf die von Russland annektierte Halbinsel Krim, und Cherson ist die einzige Hauptstadt einer ukrainischen Oblast, die Russland bisher einnehmen konnte.

In Reichweite der Krim

"Es würde außerdem bedeuten, dass die Krim in Reichweite der Himars-Mehrfachraketenwerfer kommt", sagt Sarah Pagung. "Ich würde deshalb nicht davon ausgehen, dass die russische Armee Cherson einfach aufgibt." Steht also ein erbitterter Stadtkampf bevor? Für Russland wäre eine Schlacht um Cherson auch eine gute Gelegenheit, ukrainische Kräfte zu binden und ihnen womöglich schwere Verluste zuzufügen. Pagung gibt allerdings zu bedenken: "Häuserkampf ist anspruchsvoll und verlustreich, das gilt aber nicht nur für die Angreifer, sondern auch für die Verteidiger."

Es ist derzeit unklar, welche langfristige Strategie die russische Armee verfolgt. Gibt es noch Bemühungen, weitere Teile der Ukraine einzunehmen, oder geht es nur noch um Schadenbegrenzung? "Ich sehe derzeit nicht die Kapazitäten für eine russische Offensive, das kann sich aber in ein paar Monaten ändern", sagt Pagung. "Die russische Strategie scheint darauf abzuzielen, das, was man jetzt hat, zu halten, und die eigenen Linien mit mobilisierten Kräften aufzufüllen, gleichzeitig aber einen Teil dieser neu mobilisierten Kräfte besser auszubilden."

Als möglichen entscheidenden Faktor in nächster Zeit sieht sie auch den Einsatz von Luftstreitkräften. "Der Fortschritt der Ukrainer basiert auch darauf, dass die russische Armee nicht die Lufthoheit hat. Das hat die Ukraine mithilfe westlicher Waffenlieferungen sehr gut erarbeitet, und Russland hatte außerdem sehr hohe Verluste an Kampfflugzeugen." Das kann sich aber schnell ändern, wenn westliche Unterstützung ausbleibt oder neue Waffensysteme eingesetzt werden. "Mit den iranischen Drohnen kann Russland jetzt wieder wesentlich günstiger und einfacher in ukrainisches Gebiet vordringen."

Am Dienstag teilte der britische Geheimdienst mit, russische Truppen würden Verteidigungsanlagen bei der ebenfalls besetzten Hafenstadt Mariupol errichten. Rechnet die russische Armee auch an dieser Stelle mit einem ukrainischen Gegenangriff? Und was würde das bedeuten? "Ein ukrainischer Durchbruch bei Mariupol wäre der strategische Super-GAU für die russische Armee. Damit wäre die Landbrücke zur Krim durchbrochen, und die Kräfte in Cherson wären abgeschnitten", erklärt Pagung. "Ich vermute aber, dass die Ukraine dafür derzeit nicht die Kräfte hat."

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