Süddeutsche Zeitung

Konferenz der EU-Außenminister:Ukraine und Litauen warnen vor russischem Truppenaufmarsch

Womöglich halte Putin sich einen Einmarsch in der Ukraine und in Belarus offen, sagt Litauens Außenminister. Die EU bringt weitere Sanktionen gegen Minsk auf den Weg.

Von Josef Kelnberger, Brüssel

Bundeskanzlerin Angela Merkel hat mit dem belarussischen Machthaber Alexander Lukaschenko am Montagabend erstmals über die Flüchtlingskrise an der EU-Außengrenze gesprochen. Ebenfalls am Montag telefonierte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron mit Russlands Präsident Wladimir Putin über die Migrantenkrise. In Brüssel befassten sich zuvor die EU-Außenminister mit der Lage durch die von Belarus an die EU-Grenzen geschleusten Migranten und mit dem russischen Militäraufmarsch nahe der Grenze zur Ukraine.

Merkel und Lukaschenko hätten sich über die schwierige Situation in der Region und besonders die Möglichkeit humanitärer Hilfe ausgetauscht, erklärte die Bundesregierung. Es sei vereinbart worden, weiter über diese Themen zu reden. Merkels Telefonat war der erste Kontakt einer westlichen Regierung mit dem Machthaber in Minsk, seit Lukaschenko sich zum Sieger der umstrittenen Präsidentenwahlen in Belarus im August 2020 erklärte hatte. In Internet-Medien hieß es, das Gespräch zwischen Merkel und Lukaschenko habe rund 50 Minuten gedauert. Die beiden hätten auch darüber gesprochen, wie man eine weitere Eskalation verhindern könne.

Zu Macrons und Putins Telefonat hieß es aus Paris, beide seien einig gewesen, dass die Migrantenkrise deeskaliert werden müsse. "Ziel dieses Anrufs war, der Krise ein Ende zu setzen", teilte ein französischer Regierungsbeamter nach dem knapp zweistündigen Gespräch mit. Über den Ursprung des Konflikts sei man sich nach wie vor allerdings nicht einig.

Zuvor hatte in Brüssel der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba seine Kollegen aus der Europäischen Union über den massiven russischen Truppenaufmarsch an seiner Landesgrenze informiert. Kuleba sprach auch mit Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg, der sagte, jede weitere Provokation oder aggressive Handlungen Russlands wären besorgniserregend, die Nato beobachte die Lage sehr genau. Deutschland und Frankreich sicherten der Ukraine in einer gemeinsamen Erklärung entschlossene Unterstützung für Unabhängigkeit, Souveränität und territoriale Integrität zu. "Jeder neue Versuch, die territoriale Integrität der Ukraine zu untergraben, hätte schwerwiegende Folgen", warnten der amtierende Bundesaußenminister Heiko Maas und sein französischer Kollege Jean-Yves Le Drian in einer gemeinsamen Erklärung.

Plant Wladimir Putin also einen Einmarsch in der Ukraine? Der litauische Außenminister Gabrielius Landsbergis empfahl seinen Kollegen bei dieser Frage einen genauen Blick auf die Landkarte.

Putin habe seine Truppen in genau gleicher Entfernung zur Ukraine und zu Belarus stationieren lassen. Womöglich halte der russische Präsident sich also beide Optionen offen: einen Einmarsch in der Ukraine, aber auch einen Einmarsch in Belarus. Eine verstärkte russische Militärpräsenz zur Unterstützung des Autokraten Alexander Lukaschenko, irgendwann vielleicht sogar eine Annexion seien vorstellbar, sagte Landsbergis. Am Ende könnten russische Beamte an den Grenzen zu Polen, Lettland und seinem Heimatland stehen.

Eine "Annahme" sei das alles natürlich, sagte der konservative Politiker auf Nachfrage. Aber er nutzte die Annahme, um der Öffentlichkeit und seinen 26 Amtskollegen aus der Europäischen Union den Ernst der Lage zu verdeutlichen. Zumindest die osteuropäische Sicht auf den Ernst der Lage. Der belarussische Autokrat Alexander Lukaschenko hat Tausende Menschen ins Land gelockt mit dem falschen Versprechen, sie dürften in Polen, Litauen und Lettland die Grenzen zur EU überqueren und weiterreisen nach Deutschland. Aber dahinter stecke Putin, sagte Landsbergis. Migration sei das "sensibelste Thema überhaupt" für die Europäische Union. Putin wolle die EU damit destabilisieren. "Deshalb müssen wir jetzt Lösungen finden. Und wir müssen Resilienz aufbauen für künftige Krisen."

Die 27 Außenminister taten bei ihrem Treffen unter Vorsitz des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell ihr Bestes, Entschlossenheit zu demonstrieren. Wie erwartet brachten sie eine weitere Sanktionsrunde gegen das Lukaschenko-Regime auf den Weg, die mittlerweile fünfte seit den dreist manipulierten Wahlen im August 2020. Das neue Sanktionsinstrument richtet sich gegen Einzelpersonen und Organisationen, die an der Schleusung von Migranten nach Belarus und an deren politischer Instrumentalisierung beteiligt sind. Im Visier hat die EU, neben Reiseveranstaltern und Hotels, vor allem die staatliche belarussische Fluggesellschaft Belavia. Sie soll künftig keine Flugzeuge mehr von europäischen Gesellschaften leasen können. Leasinggeschäfte macht Belavia beispielsweise mit dem dänischen Unternehmen Nordic Aviation Capital oder der irischen Aercap.

166 Einzelpersonen aus Belarus stehen bislang auf der Sanktionsliste, darunter Lukaschenko und sein Sohn sowie sein nationaler Sicherheitsberater Viktor Lukaschenko. Hinzu kommen 15 Organisationen, die mit Sanktionen belegt sind. Diese Liste soll nun in den nächsten Tagen erweitert werden anhand des am Montag beschlossenen Instrumentariums.

Der deutsche Außenminister Heiko Maas appellierte an die internationalen Fluggesellschaften, keine Migranten mehr nach Minsk zu bringen. Andernfalls müssten sie mit dem Entzug von Überflugrechten und Landegenehmigungen im europäischen Raum rechnen. Turkish Airlines hatte bereits am Freitag angekündigt, Passagiere aus Irak, Syrien oder Jemen dürften nicht mehr nach Belarus fliegen. Außerdem würden keine One-Way-Tickets nach Minsk mehr verkauft. "Ich kann nur alle Fluggesellschaften auffordern, sich dem anzuschließen", sagte Maas. "Wer das nicht tut, muss mit harten Sanktionen rechnen." Aber ob das alles reicht, um Lukaschenko und mit ihm Putin zu beeindrucken?

"Wir sind noch lange nicht am Ende der Sanktionsspirale angelangt", sagte Maas. Er plädierte ebenso wie sein litauischer Kollege Landsbergis für schärfere Wirtschaftssanktionen gegen Belarus. Handelsbeschränkungen richten sich bereits gegen die Kali-, Erdöl- und Zigarettenindustrie, Säulen der belarussischen Volkswirtschaft, aber durchschlagenden Erfolg scheinen diese Maßnahmen nicht zu haben. Die EU nennt ihre Strategie "gradual approach", also schrittweises Vorgehen. Kritiker nennen das Vorgehen halbherzig. Die EU nehme Rücksicht auf Mitgliedsländer, die mit Belarus Geschäfte machen.

Während die Minister in Brüssel berieten, ließ Wladimir Putin über einen Kremlsprecher verbreiten, Russland könne in dem Konflikt vermitteln. Alexander Lukaschenko behauptete derweil in Minsk, er forderte die Migranten bereits auf, in ihre Heimatländer zurückzukehren, aber sie würden nicht auf ihn hören. Das dürfe man nicht ernst nehmen, sagte der litauische Außenminister Landsbergis. "Tausende fühlen sich von Lukaschenko getäuscht. Sie dachten, sie dürften nach Deutschland reisen, jetzt sitzen sie in belarussischen Wäldern fest und wollen wieder nach Hause." Für diese Menschen müsse es sicheres Geleit zum nächstgelegenen Flughafen geben. Und der liege in Grodno, Belarus. Die EU könne bei dem Transfer "technische Hilfestellung leisten", sagte Landsbergis. Auch auf dieses Angebot der EU wird Lukaschenko wohl eher nicht eingehen.

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