Russland:Schöner Schein

Russland: Ein Plakat mit dem Bild von Oleg Senzow wirbt um Unterstützung für den Kreml-Kritiker.

Ein Plakat mit dem Bild von Oleg Senzow wirbt um Unterstützung für den Kreml-Kritiker.

(Foto: Sergei Supinsky/AFP)

Während Russland sich als weltoffener WM-Gastgeber präsentiert, laufen Repressionen und die Verfolgung Andersdenkender weiter.

Von Julian Hans, Moskau

Die Gegend um die Metro-Station Tschistye Prudy gehört zu den schicksten in der russischen Hauptstadt. Es ist einer der Orte, durch die WM-Besucher dieser Tage staunend über die gepflegten Wege schlendern. Leuchtgirlanden glitzern in den Bäumen, ringsum brummt das Leben in Bars und Cafés, Straßenmusikanten spielen in der lauen Sommernacht. Es ist das Moskau, von dem Touristen begeistert erzählen, die vor der Anreise ein graues Land mit grauen Menschen erwartet hatten. Und es war eine dieser Sommernächte, in der am vergangenen Mittwoch in eben jenem zauberhaften Park mehrere schwarz gekleidete Männer in Begleitung eines Polizisten zehn Schauspieler des Theaters Theatr.doc erst bedrohten und dann mit auf die Wache nahmen.

Eine Aufnahme von der Begegnung um kurz vor Mitternacht bricht ab, als einer der Männer dem Filmenden das Handy entreißt. Einer Schauspielerin wurde in den Bauch geschlagen, so berichteten es Anwesende dem Internetportal Meduza. Der Vorfall ist ein Beispiel dafür, wie Repressionen und Verfolgung Andersdenkender unvermindert weiterlaufen, während Russland sich als weltoffener Gastgeber präsentiert, mit fröhlichen Freiwilligen und hilfsbereiten Polizisten. Gäste kriegen von solchen Vorfällen nichts mit, für die Berichterstatter laufen sie unterhalb des Radars.

Jahrzehnte alte Kooperationen in der Wissenschaft werden zerstört

Auf dem Revier hätten Männer vom "Zentrum E" die Schikanen gegen die Festgenommenen fortgesetzt. Die "Hauptabteilung zur Bekämpfung des Extremismus" ist dem Innenministerium zugeordnet und dafür bekannt, "Extremismus" großzügig auszulegen. Manchmal genügt schon ein regierungskritischer Tweet. Nachdem der Vorwurf erst lautete, die Gruppe habe auf der Straße verbotenerweise Alkohol getrunken, ging es plötzlich um Oleg Senzow, so berichteten Beteiligte später. Der ukrainische Regisseur, der von der Krim stammt, wurde 2015 von einem russischen Militärgericht zu 20 Jahren Lagerhaft verurteilt, weil er Brandanschläge gegen Büros der Kreml-Partei Einiges Russland auf der Krim verübt und einen Anschlag auf die Lenin-Statue in Simferopol geplant haben soll. Vor zwei Monaten ist der 41-Jährige im Lager "Weißer Bär" im Norden Russlands in den Hungerstreik getreten. Er fordert die Freilassung aller Ukrainer, die in Russland aus politischen Gründen gefangengehalten werden.

Drei der in Moskau festgenommenen Personen hatten in den Tagen zuvor Flugblätter verteilt, mit denen sie auf das Schicksal Senzows aufmerksam machten. Aber aufmerksam wurden vor allem die Extremismus-Bekämpfer, die die Künstler nachts im Park abpassten. Nach einigen Stunden auf der Wache wurden sie nach Hause geschickt.

Zwei Mal haben der russische und der ukrainische Präsident während der WM miteinander telefoniert, es heißt, Unterhändler hätten Listen mit den Namen von 23 Ukrainern und 23 Russen für einen Gefangenenaustausch zusammengestellt. Aber ein Durchbruch ist nicht erreicht.

In den drei Wochen, die die WM bis jetzt dauert, wurde unter anderem ein neues Verfahren gegen Jurij Dmitriew eingeleitet, der Stalins Verbrechen in Karelien erforscht. Ein Gericht hatte den 62-Jährigen im Frühjahr überraschend von dem Vorwurf der Kinderpornografie freigesprochen. Freisprüche vor russischen Gerichten sind selten. Aber mit dem neuen Verfahren soll dieser "Fehler" offenbar korrigiert werden. In Grosny hat das Oberste Gericht Tschetscheniens in dieser Woche den Antrag abgelehnt, den Prozess gegen den Leiter des örtlichen Memorial-Büros, Ojub Titijew, an ein Gericht außerhalb der kaukasischen Teilrepublik zu verlegen. Dem 62-Jährigen wird vorgeworfen, er habe in seinem Auto Marihuana transportiert. Er sagt, die Polizei habe ihm die Drogen untergeschoben.

Als ein Aktivist im Juni vor dem Büro der Menschenrechtsbeauftragten in Moskau einen Ein-Mann-Protest gegen einen politisch umstrittenen Prozess veranstaltete, wurde er erst ins Büro der Menschenrechtsbeauftragten gebeten und dann im Vorzimmer von einem Polizisten festgenommen. Während sich Russland auf dem Feld des Sports weltoffen präsentiert, werden jahrzehntealte Kooperationen in der Wissenschaft zerstört. In der vergangenen Woche entzog der Staat der Moskauer Hochschule für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften die Lizenz. Sie darf künftig keine staatlich anerkannten Diplome mehr vergeben. Die "Shaninka" wurde 1995 von dem britischen Soziologen Teodor Shanin gegründet. Erst im vergangenen Jahr wurde der Europäischen Universität in Sankt Petersburg ebenfalls wegen Formalien die Lizenz entzogen.

Moskau bereitet sich nun auf die Zeit vor, wenn die Fans sich wieder in alle Welt zerstreut haben. Im September sind Bürgermeisterwahlen. 2013 hatte der Kreml-Kritiker Alexej Nawalny aus dem Stand 27 Prozent der Stimmen geholt. Das wird nicht wieder passieren. Außer dem Bürgermeister Sergej Sobjanin wurden vier weitere Kandidaten zugelassen. Kein einziger von ihnen gehört zur Opposition.

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