Krieg in der Ukraine:Warum Russland trotz Sanktionen weiter Marschflugkörper produzieren kann

Krieg in der Ukraine: Drohnenangriff auf die ukrainische Hauptstadt Kiew Mitte Oktober.

Drohnenangriff auf die ukrainische Hauptstadt Kiew Mitte Oktober.

(Foto: Yasuyoshi Chiba/AFP)

Lieferverbote für Chips und andere westliche Hochtechnologie sowie iranische Drohnen verhindern nicht, dass Putins Armee täglich Dutzende Male auf die Ukraine feuert. Offenbar kommt immer noch genug Material an - auch aus den USA.

Von Florian Hassel, Belgrad

Der russische Überfall auf die Ukraine war erst einen Monat alt, als westliche Militärexperten zu spekulieren begannen, dem Kreml könnten bald Marschflugkörper und andere gesteuerte Bomben zum Angriff ukrainischer Ziele ausgehen. Die Russen hätten bereits Nachschubprobleme bei präzisionsgesteuerter Munition, die außerdem oft nicht wie geplant starte, das Ziel verfehle oder beim Aufprall nicht explodiere, sagte ein hochrangiger Vertreter des US-Verteidigungsministeriums schon am 21. März.

Westliche Analysten gaben sich zuversichtlich, dass Russland angesichts der nach Kriegsausbruch verhängten Sanktionen und Lieferverbote für Chips und andere westliche Hochtechnologie bald keine neuen Marschflugkörper mehr bauen könne. Doch mehr als ein halbes Jahr und Tausende Raketen später ist Russland immer noch in der Lage, falls nötig, an einem Tag Dutzende Marschflugkörper und gesteuerte Raketen auf Ziele in der gesamten Ukraine abzuschießen - und ein Ende ist nicht absehbar.

Experten der unabhängigen englischen Forschungsgruppe Conflict Armament Research (CAR), die seit Jahren die Herkunft von Munition in Kriegen weltweit untersuchen, sind seit Kriegsbeginn ein halbes Dutzend Mal in der Ukraine gewesen. Dort stellten sie nicht nur fest, dass russische Militärtechnologie in der Tat nur mit westlichen Komponenten funktioniert - sondern auch, dass Moskau weit über ein halbes Jahr nach Kriegsbeginn weitere Marschflugkörper für seinen Krieg gegen die Ukraine herstellt.

Zuletzt untersuchten die englischen Experten Überreste von russischen Kh-101-Marschflugkörpern , die der Kreml am 23. November auf Kiew abfeuern ließ. Einer der Marschflugkörper, die gut sieben Meter lang sind und knapp eine halbe Tonne Sprengstoff tragen, wurde zwischen Juni und September 2022 hergestellt, ein anderer zwischen Oktober und November 2022.

Die englischen Experten konnten dies anhand des 13-stelligen Codes feststellen, der auf den Marschflugkörpern angebracht ist und sowohl die Fabrik in Russland identifiziert wie auch den Typ, Herstellungsquartal und Jahr. "Russland ist auch nach monatelangen Sanktionen in der Lage, gesteuerte Waffen herzustellen", lautet das Fazit der CAR-Experten in einem am 5. Dezember veröffentlichten Bericht. Die Erkenntnisse der CAR-Forscher stimmen mit denen des auf die russische Raketenindustrie spezialisierten polnischen Journalisten Piotr Butowski überein, der anhand des Zifferncodes eines am 15. November über Kiew abgeschossenen Kh-101-Marschflugkörpers feststellte, dieser sei "in diesem Sommer hergestellt" worden.

US-Verteidigungsminister Lloyd Austin gab sich am 23. November optimistisch, die Russen würden "wegen der Handelsrestriktionen für Mikrochips und andere Dinge nicht in der Lage sein, schnell Präzisionsmunition zu reproduzieren". Doch daran sind ebenso Zweifel angebracht wie an der Behauptung, Russland könne aus eigenen oder ausländischen Kapazitäten keinen Ersatz beschaffen.

Bereits 2015 beschloss der UN-Sicherheitsrat die Resolution 2231. Sie verbietet unter anderem den Export von Technik für Raketen, Marschflugkörper und Drohnen mit einer Reichweite von mindestens 300 Kilometer, an und durch Iran. In der Folge gingen Analysten davon aus, Iran müsse sich bei der Herstellung seiner bombenfähigen Drohnen vor allem auf sich selbst verlassen.

Doch die CAR-Experten kamen nach der Untersuchung mehrerer iranischer Drohnen vom Typ Shahed-136 und Mohajer-6, die Teheran Russland im vergangenen Sommer zum Angriff auf ukrainische Ziele lieferte und die von den Ukrainer abgeschossen wurden, zu gänzlich anderen Ergebnissen: Nicht nur seien die Drohnen anders als frühere iranische Drohnen nun mit Satellitennavigation ausgerüstet. Die Exemplare, die teils erst im Mai 2022 hergestellt wurden, seien auch mit Hunderten westlicher Hochtechnologiekomponenten hergestellt worden, die es im Iran den UN-Sanktionen und Sperrlisten der US-Regierung zufolge gar nicht geben dürfte. Die englischen Experten dokumentierten bei fünf in Kiew untersuchten Drohnen iranischer Produktion "mehr als 500 Komponenten und rund 200 einzigartige Modelle".

Diese seien von "mehr als 70 Herstellern in dreizehn verschiedenen Ländern und Territorien" produziert worden. Und mehr als vier Fünftel dieser Komponenten seien "von Firmen mit Sitz in den Vereinigten Staaten hergestellt worden". Mehr noch: "Viele dieser Komponenten sind erst kürzlich hergestellt worden, eine große Zahl 2020 und 2021", so der CAR-Report vom 22. November. Was Iran offenbar nicht schwer fiel, dürfte für den Kreml erst recht kein Problem sein: Laut dem finnischen Forschungszentrum CREA hat Russland bisher 243 Milliarden Euro allein dieses Jahr durch Öl und Gas eingenommen. 120 Milliarden Euro davon seien von EU-Ländern überwiesen worden.

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