Süddeutsche Zeitung

Russland:Verlorene Hoffnung

Die Russinnen und Russen stimmen drei Tage lang über Regionalparlamente und Gouverneure ab, Oppositionelle treten kaum an - viele haben das Land verlassen. Gespräche mit zweien, die geblieben sind.

Von Silke Bigalke, Moskau

Sie tritt nicht selber an, trotzdem spricht Julia Galjamina in Dauerschleife über die russischen Regionalwahlen. Wer sollte es sonst tun? Andere unabhängige Oppositionelle, die man in Moskau kennt, sind längst nicht mehr da. Oder nicht mehr in Freiheit. Deswegen stehen die Journalisten bei ihr Schlange, sagt Galjamina, 49, im Videogespräch.

Russische Wahlen, der Begriff ist längst irreführend. Die jährlichen Abstimmungen über Gouverneure, Regionalparlamente, Stadträte dienen dazu, die Macht des Kreml zu bestätigen, seine Kandidaten in allen Regionen des Landes zu positionieren. Unabhängige Oppositionelle dürfen oft nicht antreten, Wahlzettel werden gefälscht, Staatsangestellte zur Abstimmung gedrängt - so ist das seit Jahren. Am Sonntag ist es wieder so weit.

Mit dem Krieg gegen die Ukraine kommt nun ein neuer Faktor hinzu. Ihre Kritik an Putins Feldzug hat die letzten verbliebenen Oppositionellen hinter Gitter gebracht. Das ging oft schnell: Ein Moskauer Abgeordneter wurde zu sieben Jahren Haft verurteilt, weil er in seinem Bezirk kein Familienfest veranstalten wollte, während in der Ukraine "jeden Tag Kinder sterben". Der Lokalpolitiker hat das laut gesagt und wurde festgenommen.

Julia Galjamina wählt ihre Worte deswegen sehr vorsichtig. Auch sie ist in den vergangenen Jahren häufig festgenommen worden, saß über Monate in Haft. Eine Bewährungsstrafe verbietet ihr, bei Wahlen zu kandidieren. Von der staatlichen Uni, an der sie lehrt, wurde sie suspendiert. Aber ausreisen? Galjamina sagt, dass man nur in Russland eine russische Politikerin sein kann. Sie braucht den Kontakt zu den Menschen, deren Gesprächsbedarf seit dem 24. Februar nur gestiegen sei. "Weil sie alle Orientierung verloren haben. Was passiert? Wozu? Wohin? Was tun? Sie haben ihre Hoffnung auf die Zukunft verloren", sagt sie.

Ilja Lwow, 24, Student für Stadtentwicklung, ist einer der wenigen Kandidaten

Vor allem die Bezirkswahlen in Moskau stehen jetzt im Fokus, mehr als 1400 Abgeordnete in über 300 Wahlkreisen werden gewählt. Die Moskauer dürfen drei Tage lang abstimmen, auch online. Kritiker fürchten, dass dies den Behörden nur mehr Zeit und Möglichkeiten gibt, das Ergebnis zu manipulieren. Angeblich sollten am Freitag nur eine Stunde nach Abstimmungsbeginn bereits 200 000 Menschen online gewählt haben, meldete Interfax.

Moskauer Oppositionelle, so kann man es zusammenfassen, gehen ein wachsendes Risiko ein, bei immer geringeren Chancen auf Wählerstimmen. Doch Ilja Lwow, 24, Student für Stadtentwicklung, parteilos, macht Wahlkampf um des Wahlkampfs willen. Er hat sich schon als Schüler für Politik interessiert, nach dem Abitur half er Julia Galjamina bei ihrer Wahlkampagne. Jetzt ist er der Kandidat: "Ich könnte Ihnen ein Foto von meiner Wohnung schicken", sagt er im Videointerview, "die ist voll von Kampagnenmaterial."

Nach Kriegsausbruch hat Ilja Lwow Russland zunächst verlassen, aus Angst vor einer Mobilmachung. Nach zwei Monaten kam er zurück. Dass er jetzt kandidieren darf, hat sicher auch damit zu tun, dass sich die Kremlpartei "Einiges Russland" in seinem Bezirk unangreifbar fühlt, so stellt er es dar. Druck gab es trotzdem: Einmal hat ihn ein Gegenkandidat angerufen und behauptet, an einer Ladentür hänge ein gesetzwidriges Wahlplakat von Lwow.

Der wollte sofort hinfahren, dann erkannte er die potenzielle Falle: Manchmal, erklärt er, seien es die Behörden, die verbotenes Material verbreiteten - das Bild eines oppositionellen Kandidaten neben Alexej Nawalny beispielsweise. Nawalny sitzt im Gefängnis, seine Organisationen sind als "extremistisch" verboten, jede Assoziation mit ihm kann strafrechtlich verfolgt werden. Hätte Lwow ein solches Plakat von sich selbst abgehängt, hätte man ihn womöglich mit dem Corpus Delicti in der Hand fotografiert. "An solche Geschichten gewöhnt man sich", sagt er. "Aber es nervt sehr."

Nur im Wahlkampf trauen sich die Menschen über Lokalpolitik zu sprechen, sagt Lwow

Warum er sich das antut? Weil Wahlkampf in Russland die einzige Zeit sei, in der man über Politik reden kann, "ohne dass dich andere für verrückt halten", sagt er. Nur dann würden die Leute in seinem Bezirk "ohne Angst" über politische Themen reden. Über Lokalpolitik wohlgemerkt, über den Krieg sprechen die wenigsten offen. Wenn Ilja Lwow an den Haustüren seines Bezirks klingelte, traf er auf zwei Gruppen von Menschen, so erzählt er: "Jene, die dich provozieren, um festzustellen, ob du für oder gegen den Krieg bist, um dann eine Anzeige einzureichen." Wer sich gegen Putins Feldzug ausspricht, dem droht Gefängnis. Andererseits war für die zweite Gruppe genau diese Kritik wichtig, sagt Lwow, "dass du gegen den Krieg bist." Ein Balanceakt.

Julia Galjamina benutzt das Wort Krieg im Gespräch nicht. Sie war häufig in den Regionen unterwegs, dort haben die Menschen andere Probleme als in Moskau, es fehlen Straßen, Kliniken, Wasserleitungen. Eine Autobahn, die vor dem 24. Februar fest versprochen war, ist nun plötzlich nicht mehr finanzierbar. "Das Land ist ausgeblutet", sagt sie, alles Geld werde nach Moskau geschickt.

In den Großstädten, so die 49-Jährige, engagierten sich jetzt vor allem junge Menschen politisch. Zu lange hätte die Gesellschaft das Thema Politik ausgeklammert. Wenn niemand für die Welt um sich herum Verantwortung übernimmt, sagt Galjamina, dann geschehe eine Katastrophe. "Die Gesellschaft kann ohne Politik nicht leben. Sie zerfällt." Genau das sei jetzt zu sehen.

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