An diesem Mittwochmorgen sollte das ganze Dorf evakuiert werden, eigentlich. Njonoksa liegt in Nordrussland am Weißen Meer. Ganz in der Nähe testet die russische Armee auf einem Gelände Waffen. Ende vergangener Woche war dort ein Raketentriebwerk explodiert. Die Explosion tötete mindestens fünf Menschen und setzte offenbar Radioaktivität frei, was das Verteidigungsministerium jedoch abstritt. Tage später berichtete dann der russische Wetterdienst, die radioaktive Strahlung in der Gegend sei für kurze Zeit um ein 16-Faches gestiegen.
Das Dorf Njonoksa jedenfalls ist schon an regelmäßige Evakuierungen gewöhnt. Und auch diese war laut den Behörden seit Langem geplant und hatte angeblich nichts mit dem Unglück auf dem Testgelände zu tun. Sie wurde dann am Dienstagabend kurzfristig wieder abgesagt, berichteten lokale Medien. Das passt zu dem Hin- und Her, den vielen Spekulationen, die der missglückte Raketentest seit Tagen nach sich zieht.
Russland:Radioaktivität nach Unfall in Russland deutlich erhöht
Auf einem Raketen-Testgelände nahe der nordrussischen Stadt Sewerodwinsk kommt es zu einer Explosion. Tage später wird bekannt: Die Strahlung ist teilweise deutlich angestiegen.
Die russischen Behörden informieren die Bevölkerung nur stückchenweise und mit schwammigen Angaben, von denen sie einige auch wieder zurückgenommen haben. Beispielsweise hatte eine Sprecherin der nahe gelegene Stadt Sewerodwinsk bereits am vergangenen Donnerstag, dem Tag des Unglücks, über erhöhte Radioaktivität berichtet. Und die Meldung dann wieder von der Internetseite gelöscht.
Was für eine Waffe haben sie dort ausprobiert? Raketentests setzen normalerweise keine Radioaktivität frei. Mit einer Ausnahme vielleicht: Im vergangenen Jahr kündigte Präsident Wladimir Putin an, einen Marschflugkörper zu entwickeln, der nuklear angetrieben wird und damit beliebig weit fliegen kann. Er sprach von einer Waffe, die eine "quasi unbegrenzte Reichweite" und eine unvorhersehbare Flugbahn habe und daher "unbesiegbar durch jedes existierende und zukünftige" Raketenabwehrsystem sei. Die Russen tauften diese Zukunftswaffe "Burewestnik", Sturmvogel, bei der Nato heißt sie Skyfall. Nach US-Quellen sind bereits mehrere Tests gescheitert. Ist der Test dieses Mal zur Katastrophe geworden?
Es gibt keinen Beleg dafür, dass es diese Rakete war, deren Triebwerk in Njonoksa explodiert ist. Doch US-Präsident Donald Trump scheint die Vermutung in einem Tweet am Montag bestätigt zu haben. Er schrieb von der russischen "Skyfall-Explosion", die die Menschen rund um die Anlage und weit darüber hinaus beunruhige. Er schrieb: "Wir haben eine ähnliche, aber weiter entwickelte Technologie."
Eine erstaunliche Äußerung, denn die USA hatten die Idee einer nuklear betriebenen Rakete eigentlich bereits in den Sechzigerjahren verworfen. Eine solche Waffe wäre vermutlich instabil und dadurch gefährlich; sie könnte den Boden, über den sie fliegt, verstrahlen.
Die fünf Männer, die bei dem Test am Donnerstag getötet wurden, waren Mitarbeiter der russischen Atombehörde Rosatom. Sie hatten als Wissenschaftler im Atomforschungszentrum in Sarow gearbeitet. In Sarow, 450 Kilometer östlich von Moskau, war in den Vierzigerjahren die erste Atombombe der Sowjetunion entwickelt worden. Am Montag gab es dort eine Gedenkfeier für die fünf Getöteten, die Rosatom-Chef Alexej Lichatschow den "Stolz des Landes" und den "Stolz des Atom-Sektors" nannte. Am besten könne man ihrer gedenken, sagte er, indem "die Arbeit an den neuen Waffenmodellen weitergeführt wird".
Suche nach Vermissten
Rosatom hatte ihren Tod erst am Samstag nach dem Unfall bestätigt. Sie hätten auf einer Plattform gearbeitet, die im Meer schwamm, hieß es. Dort habe sich der Brennstoff für die Rakete entzündet, nachdem der Test bereits vorbei gewesen sei. Durch die Explosion seien mehrere Mitarbeiter ins Meer geschleudert worden. Man sei nicht vorher an die Öffentlichkeit gegangen, weil man bis dahin noch gehofft habe, die Männer lebend aus dem Wasser zu ziehen. Doch kann die Suche nach ihnen wirklich zwei Tage gedauert haben?
Die Rosatom-Erklärung erscheint als genauso unstimmig wie die des Forschungszentrums in Sarow, es arbeite lediglich an einer Art Atombatterie. Solche Batterien geben zwar über lange Zeit Energie ab, jedoch nur in kleinen Mengen. Wjatscheslaw Solowjow, der wissenschaftliche Leiter des Zentrums, verglich in einem TV-Interview am Sonntag die Forschung daran indirekt mit dem Nasa-Projekt Kilopower. Dabei handelt es sich um einen kleinen nuklearen Reaktor, der für die Raumfahrt genutzt wird, Experten zufolge aber nicht stark genug wäre für den Antrieb eines Marschflugkörpers wie Skyfall.
Der Test in Njonoksa gibt daher weiterhin Rätsel auf, immer wieder sickern neue Informationen durch und werden andere widerlegt. Beispielsweise wurde nun bekannt, dass die Ärzte, die den Verletzten auf dem Njonoksa-Testgelände geholfen haben, zur Untersuchung in ein Moskauer Krankenhaus gebracht wurden. Sie hätten eine Verschwiegenheitserklärung unterschreiben müssen, berichtet die russische Nachrichtenagentur Tass.
Der Kreml hat sich bisher darauf beschränkt, auf den Tweet von Donald Trump zu reagieren. Die russische Technologie liege weit vor dem, was andere Länder erreicht hätten, sagte Kreml-Sprecher Dmitrij Peskow am Dienstag, sie sei "einzigartig". Ob es aber auch die neue Superwaffe war, deren Test am Donnerstag missglückte, kommentierte er nicht.
Burewestnik oder Skyfall war bisher auf einem Testgelände auf der Insel Nowaja Semlja getestet worden, die noch weiter nördlich liegt als Njonoksa. Rüstungsexperte Jeffrey Lewis vom Middlebury Institute of International Studies in Kalifornien hat diese Tests mit Hilfe von öffentlich zugänglichen Quellen beobachtet. Er schreibt von einem Unterstand für die Mitarbeiter und von blauen Containern auf der Insel, in denen die Ausrüstung für diese Tests gelagert wurde. Nun zeigten Satellitenbildern dieselben Container plötzlich in Njonoksa. Offenbar waren sie dorthin verlegt worden.
Lewis' Team hat außerdem ein Schiff identifiziert, das am Tag der Explosion in der Bucht schwamm, die für den sonstigen Schiffsverkehr gesperrt worden war. Es handelte sich um ein Spezialschiff von Rosatom, das Kernbrennstoff und verstrahlten Abfall bergen und entsorgen soll. Für einen ganz normalen Raketentest hätte man dieses Schiff nicht gebraucht.
Korrektur: In einer früheren Version dieses Artikels hatten wir fälschlicherweise das Bild einer Explosion in einem sibirischen Munitionsdepot Anfang August verwendet.