Süddeutsche Zeitung

Russland:Putins Rentenreform ist riskant

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Das angeblich so mächtige Russland ist durch Kriege und Korruption schwach geworden. Jetzt soll das Volk dafür zahlen. Es wird sich zeigen, ob es dabei mitmacht.

Kommentar von Julian Hans, Moskau

Die kurzfristig anberaumte Fernsehansprache des russischen Präsidenten am Mittwoch war ein Ereignis, das es vorher nicht gegeben hat: Wladimir Putin sagte den Zuschauern ins Gesicht, dass er ihnen wehtun muss. Männer und Frauen sollen im Alter fünf Jahre länger arbeiten. Die Löcher in der Rentenkasse und im Haushalt lassen keine andere Wahl. Putin erklärte das mit der demografischen Entwicklung, mit der gestiegenen Lebenserwartung und mit den leeren Kassen. Er hat die Verantwortung dafür weder auf fremde Mächte geschoben noch auf deren "fünfte Kolonne", die angeblich unermüdlich daran arbeitet, Russland zu schwächen. Stattdessen hat er um Verständnis gebeten. Das ist ein Novum.

Die Russen haben sich seit der Annexion der Krim daran gewöhnt, in einer belagerten Festung zu leben: Alles Schlechte kommt von außen. Aber im Kreml sitzt einer, der sie davor beschützt. Wenn nur alle zu ihm halten, wird nichts passieren. Und nun verkündet der Beschützer die tiefst greifenden Einschnitte, seit er vor 18 Jahren von Boris Jelzin als dessen Nachfolger eingesetzt wurde. Damals waren ihm dank steigender Preise für Öl und Gas an den Weltmärkten die Gaben in den Schoß gefallen. Er musste sie nur an sein Volk verteilen. Dass sich Freunde und Weggenossen vorher ordentlich bedienten, fiel zunächst nicht sonderlich auf. Es war ja genug da. Und ging es nicht allen besser?

Als das Füllhorn sich leerte und die Bürger unruhig wurden, startete Putin zwei Kriege und trieb die Konfrontation mit dem Westen auf die Spitze. Zwar schrumpfte jetzt der Wohlstand, dafür durften sich die Menschen wieder als Angehörige einer Großmacht fühlen, die wenn schon nicht geliebt, so doch mindestens gefürchtet wird. Die überall auf der Welt mitmischt, ohne die keine Entscheidungen fallen und der man sogar zutraut, den Präsidenten des mächtigen Rivalen USA zu bestimmen.

Die Russen beginnen, die Außenpolitik des Kremls infrage zu stellen

Die Kriege, die Russland in der Ukraine und in Syrien führte und weiter führt, wurden den Zuschauern vor den Fernsehern als Hilfe präsentiert. Nach Jahren, in denen die Preise stiegen und die realen Einkommen immer weiter sanken, fragen sich selbst Menschen, die bisher ihren Patriotismus stolz zur Schau gestellt haben, warum sie jetzt auch noch länger arbeiten sollen. Damit in Syrien zerbombte Städte wieder aufgebaut werden, während die Straße vor der eigenen Haustüre nicht einmal asphaltiert ist und das einzige Krankenhaus im Landkreis schließen musste? Es sind nicht abstrakte Fragen des Völkerrechts oder der Menschlichkeit, warum die Russen beginnen, die Außenpolitik des Kremls infrage zu stellen. Sie finden schlicht, dass es zu Hause genug ungelöste Probleme gibt.

Mit der Rentenreform hat sich die Agenda in Russland gedreht. Sobald sich der Blick aber nach innen richtet, wird deutlich, wie schwach dieser vorgeblich so mächtige Staat in Wahrheit ist. Dass Korruption und staatliche Kontrolle die Entwicklung lähmen und niemand im Kreml eine klare Vorstellung davon hat, wie der große Sprung nach vorn gelingen kann, von dem Putin seit dem Beginn seiner offiziell vierten Amtszeit im Kreml so oft spricht.

Mit seiner Fernsehansprache am Mittwoch hat sich Wladimir Putin zum Träger einer notwendigen, aber unpopulären Reform gemacht. Ein riskanter Schritt. In den nächsten Monaten muss sich zeigen, ob sein Volk ihm auch dabei folgt.

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Quelle:
SZ vom 30.08.2018
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