Russland:Putin ohne Ende

In Russland wird gemunkelt, ob ein Zeitungsbeitrag die Debatte über eine weitere Amtszeit des Präsidenten eröffnen soll. Dazu aber müsste die Verfassung geändert werden.

Von Julian Hans, Moskau

Russian President Putin looks out of the window of a helicopter as he travels to the Rassvet agricultural company in Stavropol region

Wladimir Putin darf 2024 nicht noch mal antreten. Soll deshalb die Verfassung geändert werden?

(Foto: Sputnik/Reuters)

Zwei Monate bevor die russische Verfassung ihr 25. Jubiläum feiert, hat der Chef des Verfassungsgerichts für ihre Überarbeitung plädiert und so eine Debatte losgetreten. In einem Beitrag für die Regierungszeitung Rossijskaja Gaseta schrieb Walerij Sorkin am Mittwoch, dass "punktuelle Nachbesserungen" genügten, um die Unzulänglichkeiten zu beseitigen - so seine Formulierung in dem seitenlangen und stellenweise diffusen Text.

Klar wird immerhin, dass der oberste Verfassungsrichter die liberale Demokratie für veraltet hält, aber auch ein Einparteiensystem ablehnt. Erforderlich sei ein "effektiveres Modell der Volksherrschaft", so Sorkin. Die Menschen wünschten sich, dass die "traditionellen Werte" vor der Globalisierung geschützt würden. Es gelte, dem "Kollektivismus" Rechnung zu tragen, "der dem russischen Volk eigen ist", und zugleich Wettbewerb in Wirtschaft und Politik zu gewährleisten. Schützen will Sorkin die Bürger auch vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), der sich immer mehr von der Realität entferne. Minderheitenrechte dagegen sollten "nur so weit geschützt werden, wie die Mehrheit damit einverstanden ist".

Das Debakel der Regierungspartei und fallende Werte für Putin erhöhen die Nervosität in Moskau

Der EGMR ist das Gericht, das bei den russischen Bürgern das höchste Ansehen genießt, das bestätigen Umfragen. Russland führt seit Jahren die Statistik mit den meisten Verfahren und den meisten Rügen durch die Straßburger Richter an. Seitdem die Parlamentarische Versammlung der russischen Delegation nach der Krim-Annexion das Stimmrecht entzogen hat, droht Moskau mit Austritt aus dem Europarat. Die russischen Abgeordneten boykottieren die Sitzungen in Straßburg. Ein Austritt aus dem Europarat hätte unter anderem zur Folge, dass das Land nicht länger den Entscheidungen des EGMR unterworfen wäre. Eine Regeländerung, die Russland das Stimmrecht zurückgegeben hätte, lehnte die Versammlung mit Abgeordneten aus 47 Mitgliedstaaten am Dienstag ab.

Der Kreml zeigte sich nach der Veröffentlichung am Mittwoch unbeteiligt. Es handle sich lediglich "um die private Meinung eines Experten", ließ Wladimir Putin durch seinen Sprecher mitteilen. Gleichwohl wird Sorkins Vorstoß in Moskau als Startschuss verstanden, ein Thema öffentlich zu debattieren, über das schon lange gemunkelt wird. Ziel sei es, einen Weg zu finden, um Putins Vollmachten über das Ende seiner vierten Amtszeit im Jahr 2024 hinaus zu erhalten, glaubt etwa Alexej Wenediktow, Chefredakteur des Radiosenders Echo Moskaus. Putin ist am vergangenen Sonntag 66 Jahre alt geworden. 2024 wäre er 71, in dem Alter fangen andere gerade erst an als Staatschef. Doch die russische Verfassung verbietet mehr als zwei Amtszeiten hintereinander.

Ein weiterer Ämtertausch zwischen Premier Dmitrij Medwedjew und Präsident gilt als unwahrscheinlich. Schon die erste Rochade 2011 hatte zu Massenprotesten enttäuschter Russen geführt, und ohnehin hat Medwedjew derzeit schlechte Umfragewerte. Das absehbare Ende seiner Macht könnte Putin aber schon lange vor 2024 schwächen. Seit seiner Wiederwahl im März ist die Frage von Machterhalt oder Nachfolge auf dem Tisch. Das Debakel der Kremlpartei Einiges Russland bei den Gouverneurswahlen im September und die fallenden Umfragewerte des Präsidenten steigern die Nervosität zusätzlich.

Viele Beobachter sind daher davon überzeugt, dass der Vorstoß des Verfassungsgerichtschefs auf Geheiß von oben kam. "Solche Dinge werden mit dem Präsidenten abgestimmt", sagte der Politologe Leonid Gosmann dem liberalen Sender Doschd.

Es wäre nicht das erste Mal, dass eine Publikation Sorkins Entscheidungen vorwegnimmt. 2015 hatte er angeregt, dass Russland sich in begründeten Fällen über die Entscheidungen internationaler Gerichte hinwegsetzen kann, wenn nationale Interessen berührt sind. Kurz darauf fasste das Verfassungsgericht einen entsprechenden Beschluss. Eigentlich räumt die russische Verfassung internationalem Recht eine ungewöhnlich starke Rolle ein. Internationale Normen und Verträge sind ausdrücklich Bestandteil des russischen Rechtssystems.

Das Verhältnis zur Verfassung ist gespalten. Zwar begeht Russland jedes Jahr am 12. Dezember offiziell den "Tag der Verfassung" und damit den Geburtstag der Russischen Föderation nach dem Zerfall der Sowjetunion. Aber auf große Feiern wird verzichtet. Und als vor zwei Jahren Bürger vor dem Regierungssitz in Moskau zum Geburtstag die Grundrechte aus der Verfassung vorlasen, wurden sie von Polizisten abgeführt.

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