Süddeutsche Zeitung

Regionalwahlen in Russland:"Nawalnys Fehlen ist ein großes Manko für die Opposition"

Aufgrund seiner Vergiftung fällt Alexej Nawalny als Wahlkämpfer bei den Wahlen in 23 russischen Regionen am Sonntag aus. Er rechne zwar mit mehr Protestwählern, sagt Politikberater Gallyamov. Trotzdem werde der Oppositionsführer seinen Anhängern fehlen.

Interview von Paul Katzenberger, Moskau

Kurz bevor der führende russische Oppositionspolitiker Alexej Nawalny im August vergiftet wurde, hatte er noch versucht, in der sibirischen Großstadt Tomsk Unterstützer für die Regionalwahlen am kommenden Sonntag zu mobilisieren. Wegen des Attentats fällt er im Wahlkampf dort nun ebenso aus wie in den 22 weiteren von 85 Regionen, in denen gewählt wird. Nach Auffassung des unabhängigen Politikberaters Abbas Galyamov wird sich Nawalnys Fehlen bei den Wahlen für die Opposition nachteilig auswirken. Denn sein Konzept des "Smart Voting", wonach er seine Anhänger dazu aufruft, ihre Stimmen alle dem einen Aspiranten zu geben, der die besten Chancen hat, den Kandidat der Kreml-nahen Partei "Einiges Russland" zu schlagen, sei wirksamer, wenn Nawalny aktiv am Geschehen beteiligt wäre. Längerfristig müsse die Staatsmacht die Opposition dennoch fürchten.

SZ: Welche Rolle spielt es für die Regionalwahlen, dass Alexej Nawalny wegen des Giftanschlags auf ihn als Zugpferd der Opposition ausfällt?

Abbas Gallyamov: Das Attentat auf Nawalny wird die Protestwähler mobilisieren. Das heißt: Die Wahlbeteiligung jener 25 bis 30 Prozent, die strikt gegen "Einiges Russland" stimmen, wird steigen. Aber für zwei Drittel der Wähler ist der Kandidat das wichtigste Kriterium für ihre Entscheidung und nicht die Partei. Wenn das Amt eines Gouverneurs wie jetzt etwa im Oblast Rostow zur Wahl steht, ist das oft eine persönliche und regionale Angelegenheit, und wenn der Kandidat von "Einiges Russland" beliebt ist, dann wird der auch von vielen gewählt, die mit der Politik des Kremls unter Umständen nicht einverstanden sind.

Heißt das, der Giftanschlag auf Nawalny wird die Opposition wegen einer höheren Wahlbeteiligung sogar stärken?

Das ist nicht der Fall, da es einen großen Unterschied macht, ob Nawalny persönlich präsent ist oder nicht. Denn die Protestwählerschaft hört auf ihn. Wenn er diesen Wählern sagt, bitte wählt den "Kandidaten Y", um den "Kandidaten X" zu verhindern, dann machen sie das. So wird es nun zwar mehr Protestwähler geben, doch es fehlt ihnen der "Kandidat Y". Das heißt: Ihre Stimmmacht zersplittert, weil sie sich auf verschiedene Gegenkandidaten zum Kandidaten von "Einiges Russland" aufteilt.

Nawalny hat inzwischen umfangreiche Strukturen geschaffen mit Tausenden Anhängern, die das "Smart Voting" für ihn durchführen können.

Nawalnys persönliche Autorität ist aber ein wichtiger Faktor beim "Smart Voting". Es gibt in seiner Anhängerschaft schon Streitigkeiten, welche Kandidaten empfohlen werden sollen. Es kommt hinzu, dass Nawalny in der Protestwählerschaft eine viel größere Verehrung genießt als seine Mitarbeiter. Nawalnys Fehlen ist ein großes Manko für die Opposition, da es vielen Wählern schwer fällt, dem "Kandidaten Y" die Stimme zu geben. Denn das kann ja auch ein sehr unangenehmer Anwärter von Schirinowskis rechtspopulistischer LDPR oder der kommunistischen KPFR sein. Um die Menschen dazu zu bringen, solche Kandidaten zu wählen, bedarf es einer emotionalen Ansprache. Nawalny beherrscht diese, aber seine Mitarbeiter sind längst nicht so versiert darin.

Ist Nawalny in der russischen Provinz überhaupt einigermaßen bekannt? Schließlich verwehrt ihm die Staatsmacht den Zugang zum Fernsehen, und seine Videoblogs im Internet sind auf dem Land nicht so verbreitet wie in den Städten.

Er hat seine Bekanntheit in vergangener Zeit auch auf dem Land deutlich steigern können. Mehr als zwei Drittel der russischen Bevölkerung wohnt in kleineren und größeren Städten, die mit dem Internet inzwischen gut ausgestattet sind, was Nawalny zugutekommt. Dass er prominter geworden ist, liegt auch an der zunehmenden Unzufriedenheit mit "Einiges Russland" und den bestehenden Verhältnissen, die seit April 2018 schrittweise gestiegen ist. Damals wurde Dmitrij Medwedew (Parteivorsitzender von "Einiges Russland", Anm. d. Red.) erneut zum Ministerpräsidenten gewählt, was den Leuten endgültig klarmachte, dass der wirtschaftliche Stillstand anhalten wird. Dann wurde im Sommer 2018 die Rentenreform verkündet, die sehr unpopulär ist, und die Menschen begannen, sich für politische Alternativen zu interessieren. Sie fingen an, Nawalny als führendem Oppositionspolitiker zumindest zuzuhören, nachdem sie zuvor noch der Propaganda geglaubt hatten, die ihn entweder als Moskauer Snob oder als Werkzeug der Amerikaner verächtlich macht.

Wird sich die allgemeine Unzufriedenheit über "Einiges Russland" bei diesen Wahlen spürbar für die Partei auswirken?

Wenn es keine Wahlfälschungen gäbe, dann wäre das Ergebnis meiner Einschätzung nach folgendermaßen: "Einiges Russland" verliert, alte und neue Parteien der "systemischen Opposition" (Parteien, die vorgeben, eine Alternative zu "Einiges Russland" zu sein, aber häufig den Vorgaben des Kremls folgen, Anm. d. Red.) wie die KPRF oder "Nowije Ljudi" ("Neue Leute", eine nationalkonservativ marktliberale Partei, die im März 2020 gegründet wurde, Anm. d. Red.) legen zu. Doch da die Wahlen für drei Tage angesetzt sind, und die Opposition nicht in der Lage ist, die Abstimmung ausreichend zu kontrollieren, wird es zu Unregelmäßigkeiten kommen. Mit der Folge, dass "Einiges Russland" nicht viel verlieren wird. Statt den 30 Prozent, bei denen die Partei nach einer Umfrage vom August russlandweit liegt, wird sie bei 45 bis 50 Prozent landen.

Die Wähler wissen doch, dass sie betrogen werden ...

... Definitiv. Ohne jeden Zweifel.

Werden sie dagegen aufbegehren? So wie die Menschen derzeit in Chabarowsk, die glauben, dass der populäre Gouverneur Sergei Furgal mit fadenscheinigen Mordvorwürfen überzogen wird, nur weil er sich bei der Gouverneurswahl 2018 gegen den Kandidaten von "Einiges Russland" durchsetzen konnte.

Ich glaube nicht, dass es große Revolten geben wird. Um es mit militärischen Begriffen auszudrücken: Proteste können in der Form von Angriff oder Verteidigung ablaufen. Bei den Demonstrationen in Chabarowsk handelt es sich um eine Verteidigungsmaßnahme. Die Menschen wollen etwas bewahren, von dem sie glauben, dass es ihnen schon gehört. Furgal war ja schon im Amt. Wenn man die Staatsmacht angreift, dann will man etwas, was einem noch nicht gehört. Für den Angriff braucht man viel mehr Kraft und Energie. Diese aufzubringen ist bei Regionalwahlen noch schwerer als sonst, denn die Leute wissen, dass es um die Abstimmung über regionale Parlamente und Gouverneure geht, die in einem so zentralistischen System wie in Russland ohnehin nicht viel politische Macht haben.

Aber könnten die aktuellen Regionalwahlen nicht doch zumindest in den Regionen ein Zeichen für die Duma-Wahl im kommenden Jahr setzen, die sich vom Kreml derzeit allein gelassen fühlen? In den Regionen Archangelsk, Irkutsk, Komi, Magadan und Nowosibirsk soll aus unterschiedlichen Gründen große Unzufriedenheit herrschen.

Ich möchte nicht ausschließen, dass es aufgrund spezifischer regionaler Konflikte zu vereinzelten Protesten kommen wird. Zumal dann, wenn es charismatische Oppositionskandidaten in die Stichwahl schaffen und das Rennen knapp für den Kandidaten von "Einiges Russland" ausgeht. Doch einen Aufruhr in der Größenordnung von Chabarowsk halte ich für ausgeschlossen. Im Großen und Ganzen glaube ich nicht, dass diese Regionalwahlen auf nationaler Ebene eine große Rolle spielen werden. Ganz anders wird es meiner Meinung nach bei der Duma-Wahl im kommenden Jahr aussehen. Da wird die Staatsmacht damit rechnen müssen, durch große Proteste herausgefordert zu werden.

Das heißt, der "Angriff", von dem Sie vorhin sprachen, wird erst bei der Duma-Wahl kommen, weil die Leute wissen, dass es da wirklich um etwas geht?

Richtig. Da wird es sich schließlich auswirken, dass der Trend gegen die Staatsmacht spricht. Sie entfremdet sich zunehmend vom Volk, erstens weil es wirtschaftlich bergab geht, zweitens, weil die Menschen die autoritären Züge des Systems immer stärker wahrnehmen, während das System nicht bereit ist, sich zu öffnen. Dieser Gegensatz ist soziologisch bereits gegeben, er wird sich politisch aber erst bei der Duma-Wahl im kommenden Jahr auswirken wird.

Warum haben dann im Juli nach offiziellen Angaben knapp 80 Prozent der Wähler für die Verfassungsänderung gestimmt, die der Kreml wollte?

In Wahrheit waren es nicht knapp 80, sondern zwischen 55 und 60 Prozent. Und man darf nicht vergessen: 30 bis 35 Prozent der Wähler haben dagegen gestimmt.

Es ist trotzdem die Mehrheit, die dafür gestimmt hat.

Warum? Weil es den Behörden zum vermutlich letzten Mal gelungen ist, den erwähnten soziologischen Gegensatz zwischen Volk und Staatsmacht zu verschleiern. Denn die staatliche Propaganda für die Verfassungsänderung thematisierte nicht etwa die Verlängerung von Putins Amtszeit, sondern vor allem staatliche Geschenke, wie die Anpassung der Renten an die Inflation, die Höhe des Mindestlohns und gesellschaftspolitische Fragen wie die Verankerung des Glaubens an Gott in der Verfassung. Die Menschen haben nicht verstanden, dass es um eine politische Entscheidung ging, sondern gedacht: 'Ich bekomme da etwas angeboten, warum soll ich es nicht annehmen?' Bei der Duma-Wahl wird man ihnen hingegen nicht ausreden können, dass es klipp und klar um politische Alternativen geht.

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