Wladimir Putin hat ihn selbst ausrichten lassen, und vielleicht ist das einer der bemerkenswertesten Sätze in den Stunden der Fassungslosigkeit und Trauer: dass Boris Nemzow keine Bedrohung für Russlands Führung gewesen sei. Putins Zustimmungsrate ist im Februar noch einmal von 85 auf 86 Prozent gestiegen; sogar der selbstbewusste Nemzow hatte jegliche Illusion verloren, sein Einfluss reiche aus, um in absehbarer Zeit etwas zu verändern. Und doch: François Hollande oder David Cameron kommen oft nicht einmal auf die Hälfte von Putins Werten und haben offenbar weit weniger Sorge um den Fortbestand politischer Stabilität. Denn in Russland herrscht der Eindruck vor, als stünde das riesige Land kurz davor, aus den Angeln gehoben zu werden.
Russlands Opposition hat es schon immer schwer gehabt, abseits von Nischensendern und Zeitungen mit überschaubarer Auflage irgendwo Gehör zu finden. Aber nur von einer Marginalisierung der Opposition zu reden, trifft den Kern schon länger nicht mehr. Denn das Stadium ist vorbei, in dem Regierungskritiker vor allem ignoriert oder behindert werden; seit geraumer Zeit werden sie gezielt Kampagnen ausgesetzt, diffamiert und angefeindet. Es ist eine Zeit des Misstrauens, des Hasses, der Angst - auch der Angst Moskaus, dass aus einem Protestkeim eine Protestbewegung erwachsen könnte, und am Ende gar noch mehr.
Der Mord an Nemzow könnte eine Zäsur sein. Nur welche?
Ein Maidan wie in der Ukraine, das ist die ultimative Schreckensvision, die die Maßstäbe in Russland beträchtlich verschoben hat: Manche Russen geraten schon in den Verdacht, ein Landesverräter zu sein, wenn sie einfach die Wahrheit sagen. Äußere Feinde, innere Feinde, das sind Vokabeln, die Konjunktur haben. Je höher sich die Welle des Patriotismus aufbaut, desto größer wird die Kluft zu jenen Russen, die auch etwas auszusetzen haben am autoritären Kurs des Kremls. So erfährt Russland eine Spaltung wie selten zuvor. Als seien Grautöne einfach abgeschafft, als gebe es nur noch Freunde der Regierung und ihre Feinde.
Ermordung von Boris Nemzow:Vom Vize-Premier zum Regimekritiker
Er galt mit nicht einmal 40 Jahren als möglicher Nachfolger von Boris Jelzin, war Vize-Premier, dann Putin-Kritiker. Nun ist Boris Nemzow ermordet worden. Stationen seines Lebens.
Der Mord an Nemzow könnte nun eine Zäsur sein. Nur welche, das weiß man noch nicht. Russlands Opposition könnte erst recht verstummen, in der Angst, dass nicht Schikanen, sondern der Tod eine Folge sein könnte. Er kann auch die Augen öffnen, dass Pluralismus, die Konkurrenz von Meinungen ein wertvolles Gut ist. Russland, zunehmend isoliert und wirtschaftlich in Bedrängnis, braucht den politischen Wettbewerb dringender denn je.
Immerhin, Zehntausende Menschen beim Trauermarsch für Nemzow sind ein Signal, dass die Gesellschaft doch nicht ganz entmutigt ist, auf die Straße zu gehen und öffentlich Zeichen zu setzen. Doch die Angst dürfte fortwähren, solange Morde wie die an Anna Politkowskaja oder Natalja Estemirowa ungesühnt bleiben. Erst am Sonntag betonten die Behörden, dass auch der Fall Wladislaw Listjew noch nicht abgeschlossen sei. Doch was nutzt es: Die Ermordung des Fernsehmoderators jährt sich bereits zum 20. Mal.