Süddeutsche Zeitung

Russland:Moskaus Justiz will beschwichtigen

Sogar Geistliche der russisch-orthodoxen Kirche hatten einen offenen Brief unterzeichnet. Nach breitem Protest in der Öffentlichkeit kommt Pawel Ustinow nun vorerst frei.

Von Silke Bigalke, Moskau

Montag vergangener Woche hatte ein Staatsanwalt noch sechs Jahre Strafkolonie für Pawel Ustinow gefordert. Ein Bezirksrichter verurteilte den Schauspieler schließlich zu dreieinhalb Jahren. Doch nur vier Tage später hatte sich der Wind gedreht in Moskaus Gerichtssystem: Der Bezirksstaatsanwalt forderte nun, den bereits verurteilten Ustinow unter Auflagen freizulassen, was das Moskauer Stadtgericht am Freitag auch tat. Was lag zwischen Verurteilung und Freilassung? Keine neuen Beweise jedenfalls. Bereits vor dem Urteilsspruch war klar, dass der 23-Jährige unschuldig ist. Nun erkannte das Gericht offenbar, dass es politisch nicht mehr opportun ist, ihn wegzusperren.

Pawel Ustinow ist einer von mehreren Angeklagten, die während der Moskauer Proteste festgenommen wurden. Ihnen wird vorgeworfen, sich der Polizei widersetzt zu haben. In Ustinows Fall zeigen Videoaufnahmen, wie er am Rande einer Demo stand, als ihn vier Nationalgardisten festnehmen. Ustinow taumelt zurück. Ein Nationalgardist fällt, vor Gericht wird er sagen, er habe sich seine Schulter verrenkt. Der Richter weigerte sich, die Aufnahmen anzusehen. Immer mehr Menschen setzen sich nun auch für andere ein, die zu Unrecht verurteilt wurden.

Nicht zum ersten Mal würde die Stimmung ein Urteil beeinflussen

Bis Sonntag hatten 169 Geistliche der russisch-orthodoxen Kirche einen offenen Brief unterschrieben, was bemerkenswert ist, weil die Kirche den Kreml meist unterstützt. Sie seien besorgt darüber, dass die Urteile eher wie der Versuch einer "Einschüchterung russischer Bürger" wirkten, als wie gerechte Gerichtsentscheidungen. Auch mehrere Tausend Lehrer, Ärzte, Programmierer, Theatermitarbeiter und Autoren unterschrieben ähnliche Briefe. Die Justiz hofft offenbar, sie mit einem milderen Urteil für Ustinow besänftigen zu können. Es wäre nicht das erste Mal, dass die öffentliche Stimmung ein Gerichtsurteil beeinflusst. Auch früher schon setzten sich Kreml-nahe Persönlichkeiten für Angeklagte ein, wenn sie merkten, dass sie damit die Mehrheitsmeinung treffen.

Am Donnerstag forderte sogar der Chef der Nationalgarde eine mildere Strafe für Ustinow. Das bedeutet noch keinen Freispruch für ihn, aber gute Chancen für die Berufungsverhandlung am Donnerstag.

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Quelle:
SZ vom 23.09.2019
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