Russland:Moskauer Statistiken

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Im Kampf gegen die Corona-Pandemie haben in Moskau Mitte Mai neue Massentests auf Antikörper begonnen. (Foto: Gavriil Grigorov/dpa)

Viele Infizierte, relativ wenige Tote - kann das stimmen? Die Zählweise der Covid-Fälle in dem Land ist zum Politikum geworden.

Von Silke Bigalke, Moskau

Mitte März starb in Russland die erste Corona-Patientin. Sie wurde 79 Jahre alt und nur kurz in die Statistik der Covid-19-Toten aufgenommen. Bald stellte man ein Blutgerinnsel als Todesursache fest, und die Zahl der russischen Corona-Toten blieb für ein paar weitere Tage: null.

Inzwischen liegt sie bei 2722 Toten, angesichts der mehr als 290 000 Infizierten ist das sagenhaft niedrig. Stimmt die Statistik, stirbt in Russland etwa einer von hundert Covid-19-Patienten, liegt die Sterblichkeitsrate mit 0,9 Prozent deutlich unter der deutschen. Anders formuliert: Zwar zählt kein europäisches Land mehr Infizierte als Russland, doch in Deutschland starben bisher dreimal mehr Menschen an dem Virus, in Frankreich zehnmal so viele, in Großbritannien knapp 13 Mal so viele.

Kein Wunder, dass es Zweifel gibt. Mehrere Medien haben die sogenannte Übersterblichkeit als Hinweis auf höhere Todesraten zitiert. Die Übersterblichkeit zeigt an, wie viel mehr Menschen im Vergleich zum Durchschnitt gestorben sind, etwa im April 2020 verglichen mit der durchschnittlichen Todeszahl für diesen Monat.

Moskaus Bürgermeister sagt, die Hälfte der Covid-Patienten sei negativ auf das Virus getestet

Die Financial Times etwa leitet daraus ab, dass es bis zu 70 Prozent mehr Covid-19-Tote in Russland geben könnte, als die Statistik zeigt. Die New York Times zitiert einen Moskauer Demografen, der erklärt, dass 70 bis 80 Prozent der Todesfälle im Zusammenhang mit Corona nicht gezählt worden seien. Beide Zeitungen stehen mit ihrer Analyse zwar nicht allein. Doch als Medien mit großer internationaler Reichweite haben sie besonderen Ärger in Moskau erregt. Eine Sprecherin des Außenministeriums nannte die Artikel "inkorrekt, parteiisch" und "einseitig". Einige westliche Kräfte versuchten, die globale Krise zu nutzen, um manche Regierungen zu diskreditieren. Über die russischen Botschaften in London und Washington habe man die Redaktionen aufgefordert, eine Gegendarstellung zu drucken.

Zudem ermittelt nun die Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor gegen die beiden Zeitungen. Sie kann Nachrichtenseiten mit dem Argument blockieren, dass diese Falschnachrichten verbreiteten. Auch die Generalstaatsanwaltschaft ist eingeschaltet. Am Freitag äußerte sich Außenminister Sergej Lawrow: Die russischen Behörden seien "die letzten, die die Wahrheit verbergen möchten". Die Situation zu missbrauchen, "um dieses oder jenes Land zu verunglimpfen", sei empörend. Die New York Times hatte die Vorwürfe aus Moskau da bereits zurückgewiesen.

Zwei recht nüchterne Artikel werden zum Politikum. Es geht dabei um die Frage, wie Covid-19-Todesfälle definiert werden - aber eben nicht nur darum. In Russland fließen in die Statistik allein solche Patienten ein, die direkt am Virus starben. Die Todesursache wird oft durch Obduktion ermittelt. Wer infiziert war, aber einer anderen Todesursache erlegen ist, wird dabei ganz offiziell nicht als Corona-Toter gezählt. Eine weitere Erklärung für die Zahlen ist der unzuverlässige Test. Selbst Moskaus Bürgermeister Sergej Sobjanin sagte, die Hälfte der Covid-19-Patienten werde negativ auf das Virus getestet. Womöglich spielt zudem die insgesamt niedrigere Lebenserwartung in Russland eine Rolle.

Dazu kommt das politische Interesse an einer geringen Sterberate. Die liege 7,4 Mal unter dem weltweiten Durchschnitt, berichtete Tatjana Golikowa, als Vize-Premierministerin für Gesundheitspolitik zuständig, vergangene Woche. Wenn in Russland weniger Patienten am Virus sterben, spreche das für das Gesundheitssystem, sei das Land besser auf die Krise vorbereitet als andere, so argumentieren nun manche. Berichte aus russischen Krankenhäusern stützen dieses Bild allerdings nicht.

Kürzlich veröffentlichte die Moskauer Gesundheitsbehörde ihre Argumente dafür, dass die Zahlen stimmten: Mehr als 60 Prozent der Toten unter den Corona-Patienten, so lautet einer der Punkte, würden wegen anderer Todesursachen nicht in die Statistik gezählt. Das ist kein Widerspruch zu New York Times und Financial Times. Als Erklärung für die niedrigen Zahlen reicht es aber auch nicht.

© SZ vom 19.05.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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