Süddeutsche Zeitung

Russland:Moskauer Motive

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Kohls früherer Berater Horst Teltschik und der Osteuropa-Historiker Martin Aust bemühen sich um Verständnis für Putins Politik - aber auf sehr unterschiedliche Art.

Von Renate Nimtz-Köster

Vorurteile, blinde Liebe, Furcht und Verehrung - ein widersprüchliches Russlandbild geistert seit eh und je durch deutsche Köpfe. Am Krieg in der Ostukraine und an der Annexion der Krim erhitzten sich die Gemüter bis zum Siedepunkt, unversöhnlich diskutieren seither "Russland-Versteher" mit jenen, die wissenschaftliche Kenntnis und Sachlichkeit beanspruchen.

Gerade bemühen sich wieder zwei Autoren um Verständnis für Russland - auf unterschiedlichen Wegen: Martin Aust, Osteuropa-Historiker an der Universität Bonn, mit seinem neuen Buch "Im Schatten des Imperiums", das Russlands Politik von Gorbatschows Perestroika bis zum Beginn von Putins vierter Präsidentschaft 2018 erklären möchte. Praktische Lösungen der gegenwärtigen Konfrontation sucht hingegen Horst Teltschik, außenpolitischer Berater von Helmut Kohl und langjähriger Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz. Als hochgefährliches "Russisches Roulette", wie er sein Buch überschreibt, sieht Teltschik die Eskalation in den beiderseitigen Beziehungen und fordert eine Neuauflage der von ihm mitgestalteten Entspannungspolitik.

Beide, Aust und Teltschik, verbindet und trennt zugleich ein Schlagabtausch, den sie sich im Dezember 2014 nach der Annexion der Krim öffentlich lieferten. Auf den von Teltschik initiierten Aufruf von 65 Unterzeichnern, der unter dem Titel "Wieder Krieg in Europa? Nicht in unserem Namen" mehr Rücksichtnahme auf Moskau gefordert hatte, antworteten 100 Ostexperten mit einem Gegenaufruf: Die Unterzeichner, unter ihnen die Professoren Aust und Karl Schlögel, benannten Aggressor und Opfer und wiesen "Pathos und Halbwahrheiten" zurück.

Voraussetzung für ein fundiertes Russland-Verständnis, meint nun Historiker Aust, sei die Analyse der geschichtlichen Hinterlassenschaft: Seit 1991, so seine These, befinde sich Russland in einer "postimperialen Konstellation". Die Frage nach dem politischen und gesellschaftlichen Umgang mit dem doppelten imperialen Erbe von Zarenreich und Sowjetunion sei noch keineswegs geklärt - auch nicht für den Präsidenten Wladimir Putin, dessen Person die Russlanddebatte beherrscht.

Nicht schlagartig, wie im Falle Deutschlands oder Japans 1945, sei mit der Sowjetunion auch ein Imperium verschwunden. Der Abschied könne, wie am Beispiel Frankreichs und Großbritanniens und ihrer einstigen Kolonialreiche zu sehen, ein längerer Prozess sein.

Dabei wechselten sich Reformbemühungen, Gewalt und Krieg als letztes Mittel ab. Es brauche seine Zeit, sicherlich auch über Putins Amtszeit hinaus, meint Aust, "bis imperiale Politik in den Köpfen der politischen Elite eines Landes keine Option mehr darstellt". Der Historiker nennt es "fahrlässig zu denken, dass das Ausscheiden Putins das Land schlagartig verändern wird und alle jetzigen Fragen im Verhältnis Russlands zu Europa sich von allein lösen werden". Ein Beispiel für den taktischen Umgang Putins mit dem imperialen Erbe sei sein Abbruch des Projektes Novorossija: Mit "Neurussland" plante die russische Rechte im Frühjahr 2014, in Anlehnung an eine neue Verwaltungseinheit Katharinas der Großen nach deren Annexion der Krim 1783, die Expansion weiter nach Westen fortzusetzen. Putin verfolge aber "keinen Maximalplan der Wiedergewinnung ehemals zaristischer oder sowjetischer Territorien", meint Aust. Seine Unterstützung rechter Kräfte sei "situativ und partiell" - wie im Falle der Krim-Annexion und der Destabilisierung des Donbas. Denn auf Dauer würde solch vorbehaltloser Rückhalt "der Außenpolitik mehr Probleme als Vorteile bereiten".

Sein Buch sieht Aust als "Beitrag zum öffentlichen Gespräch über Russland in Deutschland". Gegenwärtig trügen Publikationen, die das Russlandbild stark überzeichnen, zur Verhärtung und emotionalen Aufladung der Auseinandersetzung bei. Das "eindimensionale Urteil", wie es die Journalistin Gabriele Krone-Schmalz, mittlerweile aber auch der prominente amerikanische Historiker Timothy Snyder abgäben, verzerre die Realität.

Bei aller Kenntnis des Zeitzeugen Teltschik ist sein durchaus fesselndes Panorama der Ostpolitik nicht frei von Schwächen. So beklagt auch er "die verzerrte Wahrnehmung des Kontrahenten" Russland, um sein Zerrbild von einer maroden Ukraine zu verfestigen. Zweijährige Straßenkinder gebe es dort, hatte sich Teltschik 2015 bei einem Vortrag an der Universität Bern empört. "Im Alltag werden Sie als Ausländer ständig bedroht", frei könne man sich nur "bewaffnet bewegen".

Großzügig gewährt Teltschik Lob für Russland, das sich 1994 zur territorialen Unversehrtheit der Ukraine bekannte, nachdem diese ihr sowjetisches Atomwaffenarsenal an Moskau abgegeben hatte. So behauptet er: "Die Menschen erfreuen sich schon jetzt eines Ausmaßes an persönlicher Freiheit, das es in der Geschichte Russlands (...) noch nie gegeben hat." "Es gibt keine Demokratie, aber Wahlen. Es gibt keine freie Presse, aber Redefreiheit (...)

." Der Moskauer Regisseur Kirill Serebrennikow, das merkt die Leserin an, musste indessen vom Hausarrest aus seine in Europa gefeierten Theater- und Opernaufführungen inszenieren. Die Zahl der obdachlosen Kinder ist heute in Russland größer als in der Nachkriegszeit. Am allermeisten, so ergab eine Umfrage des Lewada-Meinungsforschungszentrums, fühlen sich die Russen belastet von der "Schande der Armut".

Gelegentlich sieht Autor Teltschik die gegenwärtige Politik Russlands auch kritisch und wünscht mehr Kooperationsbereitschaft. Die Furcht vor der Einkreisung durch das westliche Bündnis sei "realpolitisch unbegründet", erklärt Teltschik: Die Westgrenze sei die sicherste des Riesenreiches. Im Osten grenzt es an die beiden Atommächte China und Nordkorea.

Doch die Bringschuld sieht er letztendlich beim Westen. Chancen für eine gesamteuropäische Sicherheitsordnung unter Einbeziehung Russlands seien in den Umbruchjahren 1989/90 nicht genutzt worden. Enttäuschungen gruben sich tief in das russische Gedächtnis ein. Das Nato-Bombardement auf das "serbisch-slawisch Brudervolk" während des Kosovo-Krieges 1999 wurde vom damaligen russischen Präsidenten Boris Jelzin nie verziehen. Teils reichlich detailliert in der Wiedergabe mancher Politikerrede zeichnet Teltschik die Ost-West-Politik mit ihren Erfolgen und Krisen nach. Auf die typischen Fotos vom Autor mit seinen stets gut gelaunten Präsidenten mag er allerdings nicht verzichten.

Immer wieder gab es Rückschläge, etwa bald nach der von vielen Hoffnungen begleiteten Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte von Helsinki, mit der sich Ost und West 1975 auf die friedliche Lösung von Konflikten und die Achtung der Menschenrechte verpflichteten: Trotz aller Abkommen hatte der damalige Generalsekretär der KPdSU, Leonid Breschnew, neue atomare Mittelstreckenraketen entwickeln und stationieren lassen. "Ein bleierner Mantel" (Horst Teltschik) habe sich damals über die Ost-West-Beziehungen gelegt. "Buchstäblich einen Tag nach der Wahl Gorbatschows ging die Eiszeit zu Ende."

Heute, bedauert Teltschik, "wird erwartet, dass Russland einseitig nachgibt"

Energisch tritt Teltschik für die Ehrenrettung von Ronald Reagan und George Bush ein. Der in Deutschland "ständig als kalter Krieger denunzierte Reagan" und sein Nachfolger hätten "die weitreichendsten Abrüstungsergebnisse" erzielt, vor allem die sogenannte doppelte Nulllösung für alle Kernwaffensysteme der USA und der Sowjetunion mit einer Reichweite bis zu 5500 Kilometern: "Dem jahrelangen Wettrüsten sollte ein Wettabrüsten folgen." Der seinerzeit heiß umstrittene Nato-Doppelbeschluss sei von der Protestbewegung der frühen Achtzigerjahre völlig verkannt worden: Er habe das Ziel gehabt, die sowjetische Führung zu veranlassen, ihre Mittelstreckenraketen zu vernichten. Gegen die sowjetische Aufrüstung, merkt Teltschik an, hätten sich die Friedensinitiativen nicht gerichtet.

Die entschlossene westliche Antwort auf eine russische Provokation sei damals mit einem fairen Angebot kombiniert worden, einem gegenseitigen Verzicht auf Atom-Mittelstreckenraketen. Heute aber, bedauert Teltschik, "wird erwartet, dass Russland einseitig nachgibt".

Gute Nato, böse Nato? Für den Autor hat sich das Bündnis mit historischem Erfolg verdient gemacht. Dass der Kalte Krieg damals überwunden wurde, "lag vor allem an der Strategie der Nato, die seit der zweiten Hälfte der 60er-Jahre eine Politik der Stärke konsequent mit Angeboten zur Entspannung verband". Gegenwärtig aber sieht er die Nato nur auf "Konfrontationskurs". Teltschik warnt: Wenn sie ihre jetzige unflexible Strategie fortsetze, werde der Konflikt mit Russland immer weiter eskalieren.

Was tun? Teltschiks Schlussplädoyer gilt, wie immer wieder auf seiner Zeitreise "Vom Kalten Krieg zum Kalten Frieden" (so der Untertitel), "der Kombination von Stärke und ausgestreckter Hand". Für einen Neuanfang bleibe letztendlich, was er selbst als Binsenweisheit bezeichnet: miteinander reden hilft.

Renate Nimtz-Köster hat Romanistik und Slawistik studiert. Sie ist freie Wissenschaftsjournalistin.

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Quelle:
SZ vom 15.04.2019
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