Russland:"Das Problem reicht bis hinter die Mauern des Kreml"

Lesezeit: 4 min

Russland: Trotz teils massiver Gewalt kommen viele Menschen zu den Demonstrationen.

Trotz teils massiver Gewalt kommen viele Menschen zu den Demonstrationen.

(Foto: AP)

Wahlen auf allen Ebenen werden in Russland künftig zum Problem, sagt Politikwissenschaftlerin Jekaterina Schulmann. Der Machtapparat reagiere mit Gewalt - doch seine scheinbar geeinte Front sei gespalten.

Interview von Silke Bigalke, Moskau

Fast wöchentlich protestieren in Moskau Tausende Menschen gegen gelenkte Wahlen. Doch es sind nicht die ersten Massendemonstrationen gegen das politische System in Russland. Die Proteste im Winter 2011 und 2012 waren größer als die heutigen und dennoch haben die Demonstrierenden damals nichts erreicht. Auch jetzt versuchen die Behörden, die Proteste wieder mit Verboten, Massenfestnahmen und Androhung harter Strafen zu ersticken. Die Politikwissenschaftlerin Jekaterina Schulmann erklärt, was dieses Mal anders ist und welche Konsequenzen der Machtapparat daraus zieht.

SZ: Werden die Proteste dieses Mal dauerhaft etwas bewegen?

Jekaterina Schulmann: Was die öffentliche Stimmung angeht, das Misstrauen gegenüber dem Präsidenten und der Regierungspartei, sind wir zurück, wo wir vor sieben Jahren waren. Damals hat das System mit Festnahmen und neuen Gesetzen für mehr Unterdrückung reagiert. Auch was auf der Krim und in der Ostukraine geschehen ist, war letztlich eine Reaktion auf diese Proteste. Wenn die Unzufriedenheit der Menschen zu groß wird, greifen Autokratien zu Propaganda und Gewalt.

Also wiederholt sich nur, was wir schon kennen?

Ein paar Dinge sind anders als damals. Der unterdrückerische Apparat ist stärker, größer, reicher, effektiver geworden. Es gab seit 2012 keine Liberalisierung. Auf der anderen Seite hat sich die Wirtschaft verschlechtert. Damals lagen zehn wirtschaftlich gute Jahre hinter uns, in denen die realen Einkommen gewachsen sind. Jetzt schrumpfen sie bereits seit sechs Jahren.

Wie wichtig ist das für den Protest?

Die Menschen gehen nicht auf die Straße, weil sie unglücklich mit ihrem Einkommen sind. Aber ihre generelle Unzufriedenheit macht jeden neuen Anlass für Proteste noch toxischer. Die öffentliche Unzufriedenheit wird gefüttert durch wirtschaftliche Stagnation und Hoffnungslosigkeit. Gleichzeitig ist die Zivilgesellschaft stärker geworden, trotz des Drucks der Regierung. Die Menschen haben gelernt, wie sie sich vernetzten können, Informationen und Ressourcen teilen, wie sie einander helfen.

Kann man eine Verbindung ziehen zwischen den Protesten in den großen Städten und denen in der Region? Denn dort geht es oft nicht um politische, sondern um lokale Sorgen, Müllkippen, Bauprojekte, Schulen.

Es gibt keine unpolitischen Proteste. Denn dahinter steht immer die Forderung, an Entscheidungen beteiligt zu werden. Die Leute haben früher gesagt, wir sind nicht politisch - Politik war ein giftiges Wort. Jetzt nicht mehr. Wir haben nicht die Daten, um zu sagen, dass Protestler in Archangelsk anders sind als in Moskau. Aber die Zahl der Teilnehmer wächst. Die Bereitschaft der Menschen, auf die Straße zu gehen, wird sich in absehbarer Zukunft nicht ändern.

2012 ist die Protestbereitschaft eingeschlafen.

Aber sie ist nicht verschwunden, sondern in den Untergrund gegangen. Dann kam die Krim-Annexion, der Krim-Konsensus...

... die weitverbreitete Stolz, dass die Krim wieder zur Russland gehört.

Dieser Effekt war bemerkenswert kurzlebig und begann schon 2016, sich aufzulösen. 2017 gab es die erste Welle landesweiter Demonstrationen, die Jugendproteste angeführt von Nawalny. 2018 begannen Proteste nach der Präsidentenwahl im Frühjahr. Im Sommer darauf fielen alle möglichen Umfragewerte. Die unbeliebte Rentenreform war Auslöser, aber nicht der Grund dafür. Im Herbst hatten wir dann Protestwahlen in einigen russischen Regionen. Ich dachte eigentlich, es wird in diesem Jahr ruhiger, bis zu den Wahlen des nationalen Parlaments 2021. Jetzt sieht es fast wie ein Fehlstart aus, sowohl vonseiten der Opposition als auch durch den Machtapparat. Der hat mit mehr Gewalt reagiert, als nötig gewesen wäre.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema