Russland:"Frontalangriff auf alle ausländischen Korrespondenten"

Der russische Geheimdienst FSB behauptet, der Journalist Evan Gershkovich (Archivbild) habe ein Unternehmen des militärisch-industriellen Komplexes in Russland ausspioniert.

Der russische Geheimdienst FSB behauptet, der Journalist Evan Gershkovich (Archivbild) habe ein Unternehmen des militärisch-industriellen Komplexes in Russland ausspioniert.

(Foto: Dimitar Dilkoff/AFP)

Dem US-Journalisten Evan Gershkovich drohen bis zu 20 Jahre Haft, sollte er wegen Spionage verurteilt werden. Der Fall zeigt, in welche Gefahr die neue Rechtslage in Russland Berichterstatter bringt.

Von Silke Bigalke und Peter Burghardt, Moskau/Washington

Nicht einmal sein Anwalt darf ihn sehen, dabei sitzt der US-amerikanische Journalist Evan Gershkovich vermutlich bereits in einer Moskauer Gefängniszelle. Dem Korrespondenten des Wall Street Journal droht eine Anklage wegen Spionage und bis zu 20 Jahren Haft, falls er verurteilt wird. Es ist das wohl schwerwiegendste Vorgehen gegen einen westlichen Journalisten seit Beginn des Krieges in der Ukraine.

Der Geheimdienst FSB hatte Gershkovich am Mittwoch in Jekaterinburg festgenommen, bereits am Donnerstag stand er vor einem Moskauer Gericht, das ihn zunächst für zwei Monate in Untersuchungshaft schickte. Meistens wird die Haft in derartigen Fällen verlängert, wann Gershkovich wieder frei kommt, ist ungewiss.

Der Vorwurf: Gershkovich habe auf "Anweisung der amerikanischen Seite" gehandelt

Die Behörden haben das Verfahren gegen ihn als geheim eingestuft und Journalisten sowie andere unabhängige Beobachter aus dem Gerichtssaal verbannt. Die Nachrichtenseite Mediazona berichtete am Donnerstag, dass Besucher aus dem Gerichtsgebäude im Stadtteil Lefortowo evakuiert wurden, bevor Gershkovich hineingeführt wurde. Später sperrte man das Stockwerk, auf dem offenbar die Anhörung stattfand. Anwalt Daniil Berman, der zum Gericht geeilt war, um sich dem Journalisten als Verteidiger anzubieten, stand vor verschlossenen Türen.

"Sie sagen, dass es bereits einen Anwalt gibt, höchstwahrscheinlich einen Pflichtverteidiger", zitiert ihn die russische Nachrichtenagentur Ria Nowosti. Man habe ihm zu verstehen gegeben, "dass sie mir in keiner Weise helfen werden", sagte Berman demnach. Im Fall Gershkovich werde "journalistische Tätigkeit als Spionage dargestellt, dafür braucht man nicht mal in die Akten zu sehen".

Der FSB beschuldigt Gershkovich, auf "Anweisung der amerikanischen Seite" Informationen gesammelt zu haben, "die ein Staatsgeheimnis über die Aktivitäten eines der Unternehmen des militärisch-industriellen Komplexes Russlands darstellen" - so zitieren mehrere russische Nachrichtenagenturen den Geheimdienst. Belege für diese Behauptung wurden nicht veröffentlicht. Das Wall Street Journal bestreitet "vehement die Anschuldigungen des FSB" und fordert "die sofortige Freilassung unseres zuverlässigen und engagierten Reporters Evan Gershkovich. Wir stehen hinter Evan und seiner Familie".

Das Weiße Haus verurteilt die Inhaftierung "aufs Schärfste" und erklärt, das US-Außenministerium bemühe sich aktiv darum, Gershkovich konsularischen Zugang zu verschaffen: "Wir verurteilen auch die fortgesetzte Verfolgung und Unterdrückung von Journalisten und der Pressefreiheit durch die russische Regierung." US-Außenminister Antony Blinken spricht von "anhaltenden Versuchen des Kremls, Journalisten und Stimmen aus der Zivilgesellschaft einzuschüchtern, zu unterdrücken und zu bestrafen".

Der Journalist lebt schon seit Jahren in Moskau

Der 32-jährige Journalist und US-Bürger ist beim russischen Außenministerium als ausländischer Korrespondent akkreditiert. Er lebt seit mehreren Jahren in Moskau und hat bereits für die Nachrichtenagentur AFP, für die New York Times und die Moscow Times gearbeitet.

Bevor der FSB seine Festnahme bestätigte, hatten russische Medien über sein Verschwinden in Jekaterinburg berichtet, einer Großstadt östlich des Uralgebirges. Die lokale Zeitung Wetschernije Wedomosti zitierte einen Leser, der beobachtet hatte, wie ein Mann in der Nähe eines Grillrestaurants von Männern in Zivil abgeführt wurde. Sie hätten dem Festgenommenen den Pullover über den Kopf gezogen, wohl damit Passanten sein Gesicht nicht erkennen konnten.

Der Aktivist Jaroslaw Schirschikow schrieb auf Telegram, er habe Gershkovich vor wenigen Wochen in Jekaterinburg getroffen und ihn durch die Stadt begleitet. Gershkovich habe sich für die Söldnergruppe Wagner interessiert. Der Journalist sei nach Moskau zurückgereist, dann aber erneut nach Jekaterinburg gekommen. Schirschikow schreibt, Gershkovich habe ihn um ein weiteres Treffen gebeten - zu dem es dann nicht mehr kam.

Das geänderte Spionagegesetz macht die Arbeit der Journalisten gefährlich

In Moskau äußerte sich der Sprecher von Präsident Wladimir Putin zu dem Fall: "Soweit wir wissen, wurde er auf frischer Tat ertappt", sagte Dmitrij Peskow. Was Gershkovich in Jekaterinburg gemacht habe, "hat nichts mit Journalismus zu tun", schrieb die Sprecherin des Außenministeriums, Maria Sacharowa, auf Telegram.

Kollegen reagierten schockiert auf die Festnahme. "Evan Gershkovich ist ein guter und mutiger Journalist, kein Spion", schrieb der Geheimdienstexperte Andrej Soldatow auf Twitter, er lebt im Exil. Soldatow nennt die Festnahme einen "Frontalangriff auf alle ausländischen Korrespondenten, die noch in Russland arbeiten. Das heißt, dass der FSB von der Leine gelassen ist". Oppositionelle aus dem Team von Alexej Nawalny verglichen den Fall mit einer Geiselnahme, womöglich für einen späteren Gefangenenaustausch.

Das Problem sei die überarbeitete russische Gesetzgebung, hieß es auf dem Telegram-Kanal der Kremlexpertin Tatjana Stanowaja, die ebenfalls nicht mehr in Russland lebt. Die FSB-Interpretation von Spionage erlaube die Festnahme von jedem, "der sich für militärische Angelegenheiten interessiert, also über den Krieg gegen die Ukraine schreibt, über private Militärunternehmen, den Zustand der Armee, die Ausrüstung der Truppen mit Munition, militärische Taktiken und Strategien...". Selbst wer im Internet nach Informationen suche, riskiere womöglich ein Verfahren.

Hinweis der Redaktion: In einer früheren Fassung dieses Textes hieß es, Daniil Berman sei mit der Verteidigung von Evan Gershkovich beauftragt worden. Das Wall Street Journal nennt allerdings Tatjana Noschkina und Maria Kortschagina als Anwältinnen seines Korrespondenten. Die Stelle im Text wurde entsprechend korrigiert.

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