Süddeutsche Zeitung

Russland:Freiheiten auf Probe

Moskau erlaubt künftig wieder Spaziergänge und Sport - unter engen Auflagen. Ärzte aus der Hauptstadt sollen auf Putins Wunsch in anderen Regionen aushelfen.

Von Silke Bigalke, Moskau

Kommende Woche dürfen die Moskauer zum ersten Mal seit Ende März draußen spazieren gehen. Zunächst nur testweise, entschied Bürgermeister Sergej Sobjanin, und nur nach einem komplizierten Plan: Dieser teilt jedem Bewohner drei Zeitfenster pro Woche zu, gestaffelt nach Adresse. Innerhalb dieser Zeit darf er im Radius von zwei Kilometern um seine Wohnung spazieren. Sport immerhin ist täglich erlaubt, jedoch nur in den frühen Morgenstunden und mit Mundschutz. "Eine sehr schwierige Entscheidung", nannte Sobjanin die Lockerungen.

Ausschlaggebend dafür dürften vor allem zwei Dinge gewesen sein. Erstens die wirtschaftliche Situation: Anfang Juni öffnen auch alle Geschäfte, Reinigungen und Reparaturbetriebe in Moskau wieder. Damit kehren rund 300 000 Menschen zurück in ihre Jobs. Die russische Regierung rechnet mit mindestens 2,5 Millionen Arbeitslosen bis Jahresende, die Dunkelziffer dürfte vier bis fünfmal so hoch sein. Nicht nur deswegen steigt der Druck, zur Normalität zurückzufinden. Am Tag bevor der Präsident mit Sobjanin über die Moskauer Lockerungen sprach, verkündete er seine Pläne für die verschobene Siegesparade. Diese soll nun am 24. Juni stattfinden, Wladimir Putin hat den russischen Verteidigungsminister bereits mit den Vorbereitungen beauftragt. Der Präsident argumentiert, dass der Höhepunkt der Pandemie vorbei sei. Umso wichtiger war es, dass Sobjanin dies nun bestätigt hat.

Ärzte aus der Hauptstadt sollen auf Putins Wunsch hin in anderen Regionen aushelfen

Russland hat weltweit derzeit die drittmeisten Covid-19-Fälle. Tatsächlich ist die Zahl der täglich Neuinfizierten inzwischen auf unter 10 000 gesunken, glaubt man den offiziellen Zahlen. In Moskau kommen weiterhin etwa 2000 Infizierte jeden Tag dazu, auf dem Höhepunkt der Pandemie waren es drei Mal so viele. Nun spricht Bürgermeister Sobjanin davon, dass fast die Hälfte der Betten für Covid-19-Patienten leer stehe, Moskauer Kliniken sollen sich nun auch wieder um anderen Krankheiten kümmern. Und Moskauer Ärzte sollen auf Putins Wunsch hin anderswo aushelfen, etwa in Dagestan, Nordossetien und Inguschetien. Während sich die Situation in der Hauptstadt zu verbessern scheint, bleibt die Lage in vielen Regionen unsicher. Mitte Mai hatte Putin die landesweit geltende, arbeitsfreie Zeit beendet. Damit erhöhte er den Druck auf die Gouverneure, Unternehmen in ihren Regionen zu öffnen. Viele hatten daraufhin Lockerungen beschlossen, einige sind mittlerweile zurückgerudert.

Wie unzuverlässig die Zahlen aus manchen Gebieten womöglich sind, zeigt ein Gesprächsmitschnitt aus Lipezk, sechs Autostunden südlich von Moskau. Die Aufnahme wurde unter anderem vom Nachrichtenportal Znak.com veröffentlicht, zu hören ist der Gouverneur des Gebiets, der sich eine günstigere Covid-19-Statistik wünscht. "Ihre Zahlen müssen geändert werden, sonst denkt man schlecht über unsere Region", weist er sein Gegenüber an. Der Gouverneur hat die Echtheit inzwischen bestätigt. Er habe die Beamten lediglich dazu bewegen wollen, die Statistik "in Einklang mit den Fakten" zu bringen.

Fälle wie dieser lassen vermuten, dass die Statistik biegsam ist. Und künftig will das Gesundheitsministerium Infizierte ohne Beschwerden gar nicht mehr in die Statistik aufnehmen, selbst wenn sie positiv getestet wurden.

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SZ vom 29.05.2020
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