Süddeutsche Zeitung

Russland:Die Freiheit vieler

In der Bevölkerung kommt neuer Mut auf, die Menschen wehren sich gegen lokale Probleme, aber auch gegen die generelle Ungerechtigkeit. Der Kreml jedoch zeigt, dass er mit der Wut nicht umgehen kann.

Von Silke Bigalke

Die Freiheit eines Mannes hat vielen Russen viel bedeutet in den letzten Tagen. Niemand hatte damit gerechnet, dass die Behörden die Vorwürfe gegen den Journalisten Iwan Golunow so schnell fallen lassen würden. Normalerweise hätten sie sich eine solche Blöße nicht gegeben. Die Mächtigen in Moskau waren offenbar überrascht von der Solidarität und dem Kampfgeist derer, die sich für Golunow eingesetzt haben. Das ist die gute Nachricht. Die schlechte Nachricht: Die Freiheit für Iwan Golunow ändert nichts an der generellen Unfreiheit aller.

Bereits am nächsten Tag machte die Polizei mit aller Härte deutlich, dass freie Meinungsäußerungen in Moskau weiterhin unerwünscht sind: Mehr als 500 Menschen nahm sie am Mittwoch bei einer Kundgebung für Golunow fest, häufig mit Gewalt. Dabei waren die Leute genau dagegen auf die Straße gegangen - gegen Gewalt und Willkür. Die Festnahmen zeigen, wie wenig die Regierenden der Stadt, aber sicher auch im Kreml verstanden haben. Sie wissen nicht mit der Wut der Menschen umzugehen. Wer sich die Illusion gemacht hatte, dass sie den Leuten nun zuhören würden, wurde schnell eines Besseren belehrt.

Schließlich haben die Behörden Golunow nicht freigelassen, weil es richtig war. Wahrscheinlicher ist, dass die Sache Präsident Wladimir Putin ungelegen kam. Die Drogenvorwürfe gegen den Journalisten waren besonders stümperhaft konstruiert, mit falschen Fotos, einem offenbar misshandelten Gefangenen und ohne jegliche Beweise. Dazu kam der unerwartet laute öffentliche Aufschrei. Er überschattete am Freitag Putins Auftritt beim Wirtschaftsforum in Sankt Petersburg. Es wird gemunkelt, dass Putin das Thema vom Tisch haben wollte, spätestens, bis er sich kommende Woche für die Sendung "Direkter Draht" vor die Kamera setzt und Zuschauerfragen beantwortet.

Für Putins Einmischung spricht auch, dass er die Entlassung von zwei Polizeigenerälen abgenickt hat, die nun die Verantwortung für die Misere übernehmen müssen. Doch Putins Probleme sind nicht vorbei. Die prügelnden Polizisten von Mittwoch dürften dazu beitragen, dass die Sache so schnell nicht vergessen wird. Die Demonstranten haben gezeigt, dass es ihnen nicht mehr nur um Golunow geht. Sie protestieren gegen ein Unrechtssystem, gegen die Willkür einer korrupten Justiz, die wenige Reiche dazu nutzen, andere aus dem Weg zu schaffen. Sie sind auch für Tausende Menschen auf die Straße gegangen, die unschuldig weggesperrt wurden und von denen nie jemand erfährt.

Es gibt einen neuen Mut in Russland, den dieser Zusammenhalt nährt. Menschen gehen immer häufiger zu ungenehmigten Demonstrationen und riskieren, festgenommen und bestraft zu werden. Oft treiben sie sehr konkrete, lokale Beschwerden dazu, der Protest gegen einen Kirchenbau, eine Müllkippe. Dass etwa Demonstranten in Jekaterinburg kürzlich eine neue Kirche in ihrem Park vorerst verhindern konnten, dürfte viele Moskauer ermutigt haben. So verstreut der Protest in Russland ist, es geht stets auch um eine grundsätzliche Ungerechtigkeit.

Entscheidend wird sein, ob die Menschen mutig genug werden, generelle politische Forderungen zu stellen, wie bei den großen Protesten 2011. Ob die Regierung ihnen dann entgegenkommt oder wie damals den Druck erhöht. Was passiert, wenn es nicht mehr nur um die Freiheit eines Mannes geht, sondern um die vieler.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4484996
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 14.06.2019
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.