„Die Gunst Washingtons ist wichtiger als die Zukunft unserer Kinder“, soll die Süddeutsche Zeitung im Januar getitelt haben. Der Text erscheint auf einer Webseite, die der SZ im Erscheinungsbild stark ähnelt. Neben der veränderten Domain weist wenig darauf hin, dass es sich um eine Fälschung handelt. Der Text endet mit einem Schreckensszenario: „Es sei denn natürlich, Biden und Merz lösen gemeinsam den dritten Weltkrieg aus.“
Die SZ hat diesen Text nie veröffentlicht. Er ist Teil der Doppelgänger-Operation, die Julia Smirnova vom Institut für strategischen Dialog (ISD) als „die größte bekannte russische Einfluss-Operation in sozialen Medien“ bezeichnet. Die Operation läuft seit der russischen Invasion der Ukraine. Ihr Kernelement sind gefälschte Medienseiten, die wie Doppelgänger von Nachrichtenportalen wirken, gefüllt mit Desinformation und massenhaft in sozialen Medien verbreitet. Texte wie der vermeintliche SZ-Artikel sollen Angst schüren und die öffentliche Meinung beeinflussen. Neue Auswertungen zeigen jetzt: Das Ausmaß der russischen Aktivitäten in dieser Operation wurde bislang unterschätzt.
Bis zu zwei Millionen Postings pro Tag
Analysen des Auswärtigen Amts aus dem Januar 2024 sind von bis zu 200 000 Posts auf der Plattform X innerhalb von 24 Stunden ausgegangen, ungefähr zwei Nachrichten pro Sekunde. Am Mittwoch hat das Auswärtige Amt seine Schätzungen in einem Bericht nach oben korrigiert: Die Rede ist von der „größten bisher entdeckten Desinformationskampagne weltweit“. Das deckt sich mit einer Analyse von „Antibot4Navalny“, die der Süddeutschen Zeitung vorliegt. Die anonyme Analysten-Gruppe verfolgt den Einfluss Russlands auf X.
Hier konnten für einen Zeitraum von 24 Stunden ungefähr zwei Millionen Tweets der Doppelgänger-Operation zugeordnet werden – zehnmal mehr als bisher gedacht. Diese Posts wurden in dieser Zeit etwa 1,7 Millionen Mal betrachtet. Deutschland und Frankreich stehen besonders im Visier der Doppelgänger-Operation – mehr als die Hälfte aller Fake-Artikel entfällt der Analyse von „Antibot4Navalny“ zufolge auf die beiden Länder.
Die Operation zu tracken ist beinahe unmöglich. Täglich entstehen neue Accounts und Inhalte. Julia Smirnova vom ISD hält die Zahlen trotzdem für realistisch. Sie wirft der sozialen Medienplattform vor, gegen Desinformation zu wenig zu unternehmen. X hat nicht auf Fragen der SZ reagiert.
Die Ampelkoalition steht besonders im Fokus der Kampagnen
Wer genau hinter dem Doppelgänger-Netzwerk steckt, ist für westliche Sicherheitsbehörden schwer nachzuweisen. Die Bundesregierung geht inzwischen aber fest davon aus, dass es sich um IT-Spezialisten aus Putins Apparat handelt. Mit offiziellen Anschuldigungen hält Berlin sich zurück.
Im Juli 2023 hat die EU jedoch mehrere russische Firmen sanktioniert, von denen Spuren zu Doppelgängern führen. Zwei davon, „Social Design Agency“ und „Structura National Technologies“, sollen enge Verbindungen zum Kreml haben und sind nach westlichen Erkenntnissen an der Desinformationsoperation „Recent Reliable News“ beteiligt, einer Art Nachrichtenagentur, von der viele Inhalte stammen, die das Doppelgänger-Netzwerk verbreitet.
Über eine dritte Firma namens „InfoRos“ gibt es Verbindungen zum GRU, dem russischen Militärgeheimdienst, der berüchtigt ist für seine Hacker-Spezialeinheiten. Hinter mindestens zwei prorussischen Propaganda-Websites, denen das Doppelgänger-Netzwerk Reichweite verschafft hat, soll nach Informationen westlicher Sicherheitsbehörden die russische Agentur „InfoRos“ stecken. Diese ist nach Überzeugung europäischer und US-Nachrichtendienste eine „Frontorganisation“ der GRU-Einheit 54777, verantwortlich für psychologische Kriegsführung.
In den gefälschten Artikeln der deutschen Medienseiten, darunter SZ, Spiegel, Welt und FAZ, wird besonders die Politik der Ampelkoalition attackiert. Die wirtschaftliche Lage Deutschlands wird dramatisiert, und es wird gefordert, im Energiesektor wieder mit Russland zusammenzuarbeiten. Die Botschaft, die bei den Leserinnen und Lesern hängen bleiben soll, lautet, dass „die jetzige Regierung uns in den Abgrund führt“, sagt Smirnova.
Eine Mitarbeiterin des Europäischen Auswärtigen Diensts (EEAS) nennt das Vorgehen „Manipulation von Informationen“. So wird in einem Artikel fälschlicherweise behauptet, ein Streik deutscher Lokführer im Januar habe wegen Unzufriedenheit mit der Bundesregierung stattgefunden, nicht wegen des Tarifstreits zwischen Bahn und Lokführergewerkschaft. Gleichzeitig wird wiederholt dafür geworben, dass AfD oder BSW die Macht übernehmen sollten. „Die letzte Hoffnung für Deutschland?“, steht über einem gefälschten Spiegel-Artikel zu Sahra Wagenknecht, darunter eine Bildmontage von ihr vor Deutschland-Flaggen und die Aussage, sie sei „eine der populärsten deutschen Politikerinnen“.
Die Doppelgänger-Operation beschränkt sich nicht nur auf X. Eine Analyse der Nichtregierungsorganisation AI Forensics zeigt, dass die Operation auf Facebook innerhalb von acht Monaten bis März 2024 38 Millionen Menschen in Deutschland und Frankreich erreicht hat – deutlich mehr als bisher angenommen. Auch das ISD hat die Aktivitäten von Doppelgänger auf Facebook analysiert, wo zuletzt neben Posts auch Werbeanzeigen geschaltet werden. Diese riefen explizit dazu auf, am 9. Juni nicht für die Ampelparteien zu stimmen, so Julia Smirnova. Die Operation ist auch auf Youtube, Telegram und Tiktok präsent.
Beeinflusst die Operation die Europawahl?
Die realen Auswirkungen, die russische Akteure damit auf die Europawahl haben, seien nicht messbar, sagt die EEAS-Mitarbeiterin. Der Umfang der Operation sei zu groß. Die Behörde analysiere jedoch immer wieder einzelne Postings. „Oft sprechen vor allem Bots mit Bots“, sagt sie. Dass viele echte Menschen die untersuchten Postings gesehen haben, sei unwahrscheinlich. Das Auswärtige Amt kommt in seinem Bericht zu einem anderen Ergebnis. Demnach platzieren die Bots ihre Posts absichtlich mitten in Konversationen echter Menschen. Die Wirkung der gefälschten Webseiten auf die Stimmabgabe dürfte dennoch beschränkt sein. Ob der Aufwand der Operation den Ertrag rechtfertigt, bleibt unklar.
Klar ist aber: Russland hat im Informationskrieg vor der Europawahl aufgerüstet. Die Reichweite der Kampagne ist enorm, und die Akteure hinter Doppelgänger arbeiten mit immer neuen Taktiken, um auf sozialen Medien nicht entdeckt zu werden und immer mehr Personen zu erreichen. „Diese Kampagnen wollen langfristig die Demokratie untergraben“, sagt die EEAS-Mitarbeiterin. Hinweise gebe es zudem, so Julia Smirnova vom ISD, dass auch mit KI-generierten Inhalten experimentiert würde. Das könnte die Menge der Falschnachrichten in Zukunft noch deutlich erhöhen.