Süddeutsche Zeitung

Russland:Bewährung für Ustinow

Ein russisches Gericht mildert die Haftstrafe gegen den Schauspieler ab und setzt sie zur Bewährung aus.

Von Silke Bigalke, Moskau

Pawel Ustinow bleibt in Freiheit, aber freigesprochen wurde er nicht. Seine Strafe ist im Berufungsverfahren am Montag abgemildert worden. Statt zu dreieinhalb Jahre Haft verurteilte ein Moskauer Gericht den Schauspieler zu einem Jahr Haft auf Bewährung. Die Richter hatten sich die Videos angeschaut, die in erster Instanz nicht zugelassen worden waren. Ustinow ist der Meinung, sie bewiesen seine Unschuld, daher ist er auch mit dem zweiten Urteil nicht einverstanden: "Ich habe kein Verbrechen begangen", sagte er vor dem Gerichtsgebäude. Sein Anwalt will erneut Berufung einlegen.

Die Videoaufnahmen zeigen, wie Pawel Ustinow am 3. August in der Nähe eines U-Bahn-Eingangs steht, allerdings auch in der Nähe eines ungenehmigten Protests gegen Wahlmanipulation. Er schaut auf sein Handy, wartet nach eigener Aussage auf einen Freund, als ihn vier Nationalgardisten zu Boden werfen. Einer verletzt sich dabei an der Schulter. Ustinow wehrt sich nicht gegen die Festnahme, er stolpert lediglich.

Er habe früher selbst in der Nationalgarde gedient, sagt der Schauspieler vor Gericht, dies alles sei "eine unklare, alberne Verkettung von Umständen". Er habe nur zufällig dort gestanden, wollte gerade einen Freund anrufen, als er festgenommen wurde. "Wie kann man ohne Warnung einen Menschen überfallen?", fragt Ustinow. Dann bittet er um Freispruch.

Auch der Nationalgardist mit den Schulterschmerzen tritt noch mal auf. Pawel Ustinow habe auf dem Platz ein Telefon in der Hand gehabt "wer weiß, welche Aktion er da koordinieren könnte". Er habe Parolen gerufen, von denen auf den Videos aber nichts zu hören ist. Was er von der Strafe hält, den dreieinhalb Jahren, wird der Gardist von der Staatsanwältin gefragt. Er wolle nicht sagen, dass Ustinow nicht schuldig sei, sagt der. Aber jemanden, der in der Nationalgarde gedient habe, müsse man nicht zu Freiheitsentzug verurteilen.

Polizeigewalt gegenüber Festgenommen wird oft nicht mal nachgegangen

Dem Richter der ersten Instanz hatte die Aussage des verletzten Nationalgardisten für sein Urteil ausgereicht, die Videos wollte er nicht sehen. Doch viele andere Menschen haben sie angeschaut und waren entsetzt über das Urteil. Es gab Demonstrationen, offene Protestbriefe und dann ein seltsames Hin und Her der Behörden. Die Staatsanwaltschaft, die ursprünglich sechs Jahre gefordert hatte, wollte Ustinow plötzlich freilassen. Vier Tage nach dem ersten Urteil durfte er das Gefängnis unter Auflagen verlassen.

Wenn Pawel Ustinow vorher nicht politisch engagiert war, so hat ihn das Gefängnis zum Aktivisten gemacht. Noch vor dem Berufungsverfahren nahm er zu Hause eine Videobotschaft auf, um inhaftierte Aktivisten zu unterstützen: Er hoffe, dass diese jungen Leute bald wieder nach Hause dürften. Ihren Eltern sagte er: "haltet durch". Drei Tage später nahm er an einem der erlaubten Einzelproteste teil, zu denen sich Demonstranten in eine Schlange stellen, um nacheinander Schilder hochzuhalten. Solche Proteste hatte es auch für Pawel Ustinow gegeben, auf seinem Schild stand nun "Freiheit für alle".

Mehr als 2500 Menschen wurden während der Proteste festgenommen, die meisten bald wieder freigelassen. Gegen 19 aber wurden Strafverfahren eingeleitet, sechs wurden verurteilt, sechs Verfahren eingestellt. Bei den anderen ist der Ausgang noch unklar. Am Sonntag demonstrierten etwa 25 000 Menschen auf dem Moskauer Sacharow-Prospekt dafür, dass alle zu Unrecht Beschuldigten freigelassen werden. Ihre Hoffnung: Dass in Moskau öffentliche Meinung und Solidarität ein ungerechtes Gerichtsurteil drehen können.

Die Moskauer Proteste haben gezeigt, wie sich das Justizsystem verhärtet hat. Es gibt einen Trend, Vorwürfen von Polizeigewalt gegenüber Festgenommen nicht einmal nachzugehen. Ustinow wurde geschlagen, als er am Boden lag. Einem Jogger brachen Polizeikräfte das Bein, da hatte die Demo noch gar nicht angefangen. Einer jungen Frau schlugen sie in den Bauch. Nichts davon ist geahndet worden. Gleichzeitig gehen die Richter hart gegen Festgenommene vor, wenn diese sich den Polizeikräften angeblich widersetzt haben. Immer wieder ignorieren sie Beweise der Verteidigung, wie im Fall von Ustinow. Was früher als Ordnungswidrigkeit galt, versuchen sie nun zu Straftaten umzudeuten.

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Quelle:
SZ vom 01.10.2019
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