Süddeutsche Zeitung

Russische Revolution:Deutsche Dichtung, russische Revolutionswahrheit

Die Reichsführung überschätzte ihre Rolle in der Oktoberrevolution 1917 maßlos. Später versuchte Berlin, den Bolschewismus auszunutzen - mit katastrophalen Folgen.

Gastbeitrag von Gerd Koenen

Die Machteroberung der Bolschewiki in Petrograd, dem heutigen Sankt Petersburg, am 7. November 1917 vollzog sich unter dem einhelligen Beifall der deutschen Öffentlichkeit.

Die konservative Norddeutsche Allgemeine Zeitung meldete: "Das Ziel, für das das (russische - die Red.) Volk kämpfte, nämlich Vorschlag eines sofortigen demokratischen Friedens, Aufhebung des Rechtes der Grundeigentümer, Land zu besitzen, Aufsicht der Arbeiter über die Erzeugung und Bildung einer Regierung des Arbeiter- und Soldatenrates, ist gesichert."

Der sozialdemokratische Vorwärts schrieb: "Die maximalistische Regierung schafft Ordnung", und stellte Lenin den Lesern in einer biografischen Skizze näher vor: "Einen solchen Charakter braucht jetzt die russische Arbeiterklasse, wenn sie ihre historischen Forderungen erfüllt sehen will."

An den Fronten, die dank der deutschen und bolschewistischen Zersetzungspropaganda bereits in voller Auflösung waren, trug der Umsturz Züge einer einseitigen Kapitulation der russischen Armeen.

Erst deutsche Mittel erlaubten es Lenin, seine Parteibasis zu verbreitern, hieß es in Berlin

In den Berichten der deutschen Kommandostäbe vom 9. November heißt es: "Soweit erkennbar, wissen die russischen Truppen an der Front ... noch nichts über die Vorgänge im Inneren. Unsere Propaganda hat befehlsgemäß eingesetzt." Und zwei Tage später: "In den meisten Fällen haben sie durch unsere Propaganda den Umsturz erfahren und ihn mit Jubel begrüßt in der sicheren Erwartung des Friedens."

Die von deutschen Propagandaoffizieren im heute litauischen Vilnius produzierte russisch-sprachige Frontzeitung Towarischtsch, Genosse, brachte am 23. November auf der Titelseite das Radiotelegramm des Vorsitzenden des neuen "Rats der Volkskommissare", Lenin, worin der "Bürger Oberkommandierende" der russischen Streitkräfte angewiesen wurde, unverzüglich Gespräche über einen Waffenstillstand aufzunehmen.

Schon seit Ostern 1917 hatten die deutschen Propagandaoffiziere, viele von ihnen Sozialdemokraten, berichtet: "Unsere Zeitungen werden dankbarst angenommen." Gruppen von Soldaten und Unteroffizieren kämen, trotz Verbots, in die deutschen Gräben und Armeestäbe hinüber und erklärten bereitwillig, dass sie alle Schießbefehle verweigert hätten, nicht selten unter physischer Bedrohung oder Ausschaltung der eigenen Offiziere.

Das materielle Band zwischen den Schützengräben war der von den deutschen Stellen geförderte Handel mit Rasierzeug, Seife, Uhren oder Lebensmitteln. Er nahm - zumal dann in der Zeit des Waffenstillstands - ein beachtliches Volumen an.

In der Berliner Illustrierten Kriegs-Chronik für das Daheim wurde im November quasi live berichtet: "Es war gegen 11 Uhr vormittags, als der Telephonist aus seinem Bau gestürzt kam und uns zurief: 'Friede! Gefechtsmeldung: auf dem russischen Brückenkopf drei weiße Fahnen. Russische Kapelle spielt auf der Brustwehr, russische Offiziere sind zu unserem Brückenkopf hinübergestiegen, wollen wegen Waffenstillstand verhandeln! ' ... Es war Tatsache: sämtliche Stützpunkte zeigten weiße Fahnen. 'Friede! Friede!' Aus den Unterständen dringt freudiger Gesang. Dazwischen aber laut und lauter, ein Lied, wildtrotzig, als seien die Augusttage 1914 wiedergekehrt: 'Frankreich, ach Frankreich, wie wird's dir ergehen'."

Überspannte Selbsteinschätzungen in Berlin

Der neue Staatssekretär des Äußeren Richard von Kühlmann erklärte in einer Niederschrift für den Vortrag beim Kaiser am 3. Dezember: "Erst die Mittel, die den Bolschewiki auf verschiedenen Kanälen und unter wechselnder Etikette von unserer Seite dauernd zuflossen, haben es ihnen ermöglicht, die Prawda, ihr Hauptorgan auszugestalten und die anfangs schmale Basis ihrer Partei stark zu verbreitern.

Die Bolschewiki sind nun zur Herrschaft gelangt; wie lange sie sich an der Macht halten können, ist noch nicht zu übersehen. Sie brauchen zur Befestigung ihrer eigenen Stellung den Frieden; und auf der anderen Seite haben wir alles Interesse daran, ihre vielleicht nur kurze Regierungszeit auszunutzen".

Die überspannten Selbsteinschätzungen der Politiker und Militärs in Berlin fanden ihr Pendant in den dramatischen, teilweise panischen Lageeinschätzungen der Alliierten. Dem britischen Generalstabschef William Roberts zufolge würde ein deutsch-bolschewistischer Separatfrieden die Aussichten auf einen alliierten Sieg im Jahre 1918 völlig zunichte machen und den Krieg um mindestens ein weiteres Jahr verlängern, mit ungewissem Ausgang.

Überraschend waren diese Konstellationen nicht. Seit 1914 hatte sich der Weltkrieg je länger, je mehr zu einem Krieg Deutschlands gegen den Westen entwickelt, militärisch, politisch, wirtschaftlich und ideologisch. Gleichzeitig war eine Strategie der "Revolutionierung" und "Dekomposition" des russischen Vielvölkerreichs zu einem zentralen Element der deutschen Weltkriegsstrategie geworden.

Dafür hatte die deutsche Reichsleitung sehr bald Partner unter den russischen Revolutionären gefunden, am prominentesten in Gestalt des russisch-jüdischen Sozialisten Alexander Parvus-Helphand, eines Kopfs des Arbeiterrates im heutigen Sankt Petersburg.

Im September 1915 hatte Parvus eine indirekte Verbindung zwischen der deutschen Reichsleitung und dem in Zürich lebenden, von allen Verbindungen weitgehend abgeschnittenen Führer der russischen Bolschewiki Wladimir Uljanow alias Lenin hergestellt. Dessen Position eines "revolutionären Defätismus" verlangte zwar von allen, auch den deutschen Revolutionären, den Weltkrieg in einen Bürgerkrieg zu verwandeln.

Aber für die eigene Partei hieß diese Losung zunächst, dass "die Niederlage der Zarenmonarchie, der reaktionärsten und barbarischsten Regierung, das kleinere Übel wäre." Und dies galt selbst gegenüber einem zeitweiligen deutschen Sieg.

Unmittelbar nach dem Treffen sandte Lenin Jakub Fürstenberg-Hanecki, den für alle finanziellen Transaktionen Zuständigen seines Zürcher Hausstaats, in ein von Helphand gegründetes Kopenhagener Handelskontor, wo er Hand in Hand mit einem Kommissionär des Berliner Reichskriegsamtes arbeitete, um mittels des hoch lukrativen Blockadehandels über die Ostsee Kontakte mit den wenigen, noch in Petrograd operativen bolschewistischen Parteikader aufrechtzuerhalten und sie mit Geldmitteln zu versorgen.

Wirkliche Bedeutung gewann das Zusammenspiel der deutschen Reichsleitung mit den Leninisten aber erst nach der russischen Februarrevolution und nach der Durchschleusung Lenins im "plombierten Waggon" im April 1917 ins heutige Sankt Petersburg.

Als die Provisorische Regierung unter Alexander Kerenski im Mai und Juni mit einer letzten Offensive die Mittelmächte, wie vom Petrograder Arbeiter- und Soldatenrat gefordert, zu einem Frieden ohne Annexionen und Kontributionen zwingen wollte, griffen die "defaitistische" Propaganda der Bolschewiki und die deutschen Zersetzungsbemühungen eng ineinander und trugen wesentlich zum Zusammenbruch der Armee des republikanischen Russland und Auseinanderbrechen des gesamten Vielvölkerreichs bei. Nur inmitten dieses Machtvakuums konnte die von Lenin und Trotzki geleitete Kampfpartei der Bolschewiki im Oktober/November 1917 fast kampflos die Macht erobern.

Ein Akt des "Friedens" war der sofortige Waffenstillstand und die Unterzeichnung des Separatfriedens in Brest im Februar 1918 nicht, im Gegenteil: Der Weltkrieg ging damit in eine letzte, mörderische Runde; und der russische Bürgerkrieg entbrannte erst jetzt in voller Breite.

Zugleich eröffnete dies den Mittelmächten die Möglichkeit, sich zu Garanten einer ukrainischen, finnischen, baltischen oder auch georgischen Unabhängigkeit aufzuwerfen und sie als Druckmittel gegen die Räteregierung einzusetzen.

Als Gegenleistung für deren Unterschrift unter das Diktat wurde Lenins Regime dann von Berlin formell anerkannt und (mit Vorbehalten) unterstützt - während die deutsch-österreichischen Okkupanten sich in der Ukraine und Südrussland die Ressourcen für die Entscheidungsschlachten im Westen fast kampflos zusammenrauben konnten.

Als der mächtige General Erich von Ludendorff Ende September 1918 das Spiel um die Weltmacht plötzlich verloren gab, spielten die Ängste vor einem Übergreifen revolutionärer Stimmungen auf die deutschen Truppen eine wesentliche Rolle. Die Lenin'sche Frage "Wer wen", also wer da wen für seine Zwecke eingespannt hatte, stellt sich jetzt ganz anders herum.

Hitler agitierte auf dem Weg nach oben gegen die KPD, aber nicht gegen Stalins Sowjetunion

So stand auch für die sozialdemokratischen Konkursverwalter des Kaiserreichs bei der Ausrufung der demokratischen Republik im November und angesichts der "spartakistischen" Aufstandsversuche im Dezember und Januar 1918/19 das Gespenst eines Übergreifens des Bolschewismus auf Deutschland einen Moment lang beklemmend im Raum.

Allerdings dienten diese Alarmrufe auch dazu, vor den Versailler Friedensverhandlungen den westlichen Siegermächten möglichst milde Konditionen abzunötigen. Schon die ersten Andeutungen über das bevorstehende harte Diktat im Juni 1919 ließen die Stimmung in der deutschen Öffentlichkeit kippen. Im "Moabiter Salon" des offiziell gefangengesetzten Emissärs der Sowjetregierung Karl Radek gaben sich die Industriellen und Militärs das Jahr hindurch die Klinke in die Hand. Hier wurden neue Verbindungen geknüpft.

Ab 1920 bildeten der deutsche wie der sowjetrussischen Revisionismus gegenüber der "Versailler Weltordnung" eine starke, informelle Klammer. Die Reichswehr, aber auch Teile der Industrie (speziell die Rüstungsfirmen) betrieben eine konspirativ abgeschirmte Nebenpolitik mit Sowjetrussland, die über die Vereinbarungen der Verträge von Rapallo (1922) und Berlin (1926) weit hinausgriff und in Krisensituationen wie der Ruhrbesetzung 1923 gesprächsweise Züge eines potenziellen Kriegsbündnisses annahm.

Wo dieser deutsch-bolschewistische Nexus Hitlers Weg zur Macht geebnet haben sollte, geschah dies eher durch die permanente Frustrierung übersteigerter Erwartungen an eine scheinbar jederzeit mögliche "Ostorientierung". Erst dies gab der antibolschewistischen Wendung Hitlers 1926 und seinen futuristischen "Ostraum"-Plänen einen Anschein von Realismus.

In der Phase von Hitlers Aufstiegs zur Macht nach 1930 richtete sich seine Agitation allerdings fast ausschließlich gegen die KPD als Bürgerkriegspartei, kaum gegen die Sowjetunion Stalins, die den "jüdischen Bolschewismus" eines Trotzki ja gerade erst zerschlagen hatte und sich inmitten der Weltwirtschaftskrise zu einer gepanzerten Großmacht neuen Typs erhob.

Weit entfernt, einen "neuen Germanenzug" gen Osten wie in "Mein Kampf" zu empfehlen, nutzte Hitler nach 1933 diesen Machtaufbau seines östlichen Rivalen, um sich den Westmächten als Bollwerk zu empfehlen und so erfolgreich die "Fesseln von Versailles" abzustreifen - nur um am 1. September 1939 im Zeichen der beiderseits wieder beschworenen "traditionellen deutsch-russischen Waffenbrüderschaft" den Weltkrieg zu eröffnen.

Stalin erklärte Tage später dem Chef der Kommunistischen Internationale, Georgi Dimitroff, es sei schließlich "nicht schlecht, wenn Deutschland die Lage der reichsten kapitalistischen Länder (vor allem Englands) ins Wanken brächte" und "wenn wir im Ergebnis der Zerschlagung Polens das sozialistische System auf neue Territorien und Bevölkerung ausdehnen" können. Die Folgen dieser katastrophalen Fehlspekulation zeigten sich im Juni 1941. Daran laboriert die Welt bis heute.

Gerd Koenen, geboren 1944 in Marburg, ist Publizist und Historiker. Zuletzt erschien von ihm das Buch "Die Farbe Rot. Ursprünge und Geschichte des Kommunismus" (Verlag C.H. Beck).

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SZ vom 07.11.2017/odg
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