Russische Kaukasus-Republiken:Wo die Terroristen wachsen

"Für einen Getöteten gehen zwanzig Männer in den Wald": Moskau findet keine geeignete Strategie, um dem militanten Islamismus in den Kaukasus-Republiken Herr zu werden.

Sonja Zekri

Morgens steht sie auf und hofft, dass er bis zum Abend kommt. Nachts geht sie ins Bett und hofft, dass er am Morgen kommt. So hofft sie Tag für Tag, Monat um Monat, fast ein halbes Jahr. Im Oktober hat sie ihren Sohn zum letzten Mal gesehen, hat zum letzten Mal im eigenen Bett geschlafen in Goity, einem Dorf in der Nähe der tschetschenischen Hauptstadt Grosny.

Heute streift sie verloren durch die Trümmer ihres Hauses, aber was heißt hier Haus? Ein Schlachtfeld ist das. Auf dem Boden liegen verkohlte Balken, Ziegel und ein Fahrrad, in der Luft hängt Brandgeruch. "Ich würde hier nicht mehr einziehen, selbst wenn Said Saljach wiederkäme", sagt sie.

Sie war in Grosny, als sie der Anruf ihrer Schwiegermutter erreichte: "Die Polizei ist da. Sie wollen das Haus anstecken!" Und das taten sie.

Wo ist Said?

Ihr Sohn habe Untergrundkämpfer auf dem Dach eines Schuppens versteckt, sagten die Beamten Raissa später. Die Militanten hätten das Feuer eröffnet und seien getötet worden. Als Raissa ankam, fand sie nur noch rauchende Trümmer.

Das Geld war weg, und ihr Sohn festgenommen auf dem Weg von der Hochschule nach Hause. Ihr Schwager hat ihn noch mal im Gefängnis gesehen, da hatte er Blutergüsse im Gesicht. Die Polizei schwört, er sei wieder freigelassen worden. Nur: Wo ist er jetzt?

Besser nicht fragen, raten die Nachbarn, raten enge Verwandte, droht die Polizei. "Ein Beamter hat gesagt, wenn ich offiziell eine Eingabe mache, wird meine ganze Familie ausgelöscht", sagt Raissa.

Im benachbarten Inguschetien sperren die Angehörigen die Straße, wenn jemand verschleppt wird. In Dagestan demonstrierten die Familien sogar vor dem Regierungssitz. In Tschetschenien aber herrscht Grabesstille. "Selbst wenn zwanzig Menschen etwas mitgekriegt haben, finden wir keine Zeugen", sagt Dmitrij Kosakow von der Mobilen Einsatzgruppe, einem Zusammenschluss russischer Menschenrechtsorganisationen.

Aber Said ist Raissas einziger Sohn. Was hat sie zu verlieren? Sie wandte sich an die Einsatzgruppe.

Zweifelhaftes Modell

Und sie sieht die Schönheiten des neuen Tschetschenien mit anderen Augen. "Ich säße doch lieber mit meinem Sohn in einem Kellerloch als ohne ihn im prächtigsten Haus", sagt Raissa. In den Nachbarrepubliken sprechen die Menschen voller Neid über das Wunder von Grosny, wo es Sushi-Bars gibt und Restaurants mit Internetzugang. Lange Zeit galt Tschetschenien als Modellfall für den Kaukasus.

Ramsan Kadyrow hatte die kriegszerstörte Republik erst als Premier, dann als Präsident, aber stets mit dem persönlichen Segen Wladimir Putins in ein kaukasisches Kleinod verwandelt mit Riesenmoschee, Putin-Boulevard und Spruchbändern wie "Ramsan, wir danken Dir für die Stadt Argun."

Er hat ehemalige Kämpfer in seine Milizen integriert und seine Initialen K.R.A (Kadyrow Ramsan Achmatowitsch), auf Mützen oder als Nummernschild, erheben den Besitzer über jede staatliche Kontrolle wie einst die Opritschnina, die Garde Iwans des Schrecklichen.

Fromme Tschetschenen misstrauen ihm, weil er den Islam zur Herrschaftssicherung benutzt, und das Erscheinen beim Freitagsgebet inzwischen so wichtig ist wie früher das Parteibuch.

Aber fast alle schwanken zwischen Bewunderung und Hass. Bewunderung, weil sie nicht mehr wie die Tiere in Kellern hausen müssen. Hass, weil sie für das neue Leben mit ihrer Freiheit bezahlt haben.

Kadyrow steht für jene Mischung aus Gewalt und Geschenken, die Moskau lange Zeit als effektivste, ja, als einzig mögliche Herrschaftsform im Kaukasus betrachtet hat.

Aber spätestens die Anschläge am Montag mit 39 Toten, die mit großer Wahrscheinlichkeit von den militanten Islamisten um Doku Umarow verübt wurden, haben bewiesen, dass diese Strategie bestenfalls kurzfristig erfolgreich war. Denn die Jagd auf die Drahtzieher ist nicht so leicht. Die Gotteskrieger werben in Tschetschenien um Nachwuchs. Sie überwintern bei Sympathisanten. Sie beherrschen die Nacht.

Auch Kadyrow selbst ist längst ein Unsicherheitsfaktor. Auf Drängen Kadyrows hatte der Kreml vor einem Jahr den Anti-Terroreinsatz, also den Krieg, offiziell für beendet erklärt. Aber danach wurde auf Menschenrechtler regelrecht Jagd gemacht.

Vor allem aber soll Kadyrow zwischendurch der Idee einer gesamtkaukasischen Regentschaft nachgehangen haben. Ein solcher Versuch würde den Kaukasus in Flammen aufgehen lassen. Und so sehen manche die Aufgabe des neuen Kreml-Beauftragten Alexander Chloponin neben der wirtschaftlichen Wiederbelebung der Region vor allem in der Eindämmung tschetschenischer Ambitionen.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie selbst ein kaukasischer Präsident Opfer des Terrors wurde.

Terror als Echo von Geheimdiensteinsätzen gegen Unschuldige

Inguschetien, Tschetscheniens kleine Nachbarrepublik, wäre Kadyrows erstes Ziel. Inguschetien ist zum umkämpften Rückzugsort der Militanten geworden. Der Ideologe der Gotteskrieger, Said Burjatskij alias Alexander Tichomirow, wurde vor kurzem im inguschetischen Ekaschewo umgebracht, jener Burjatskij, der nach Angaben russischer Zeitungen Selbstmordattentäterinnen ausbildete, womöglich auch jene, die die Anschläge auf die Moskauer Metro verübten.

Inguschetiens Präsident Junus-Bek Jewkurow will davon nichts wissen. Noch sei es zu früh, um über eine "inguschetische Spur" zu reden, betonte er nun. Vorsorglich aber werde man die Verwandten von Militanten zum Verhör laden.

Ein Präsident als Opfer des Terror

Jewkurow hat den Terror am eigenen Leibe erlebt. Im Sommer hatte ein Selbstmordattentäter ein Auto mit Sprengstoff in den Konvoi des Präsidenten gelenkt. Jewkurow überlebte knapp. Beim Gespräch unter der goldenen Kuppel seines Palastes in der Retortenstadt Magas sieht man noch die Brandnarben an seinen Händen.

Korrupte Beamten der Vorgängerregierung hatten den Attentäter angeheuert, damit der Präsident sie nicht zur Verantwortung zieht, heißt es in Inguschetien. Jewkurow aber sagt, hinter dem Anschlag stünden die Militanten: "Sie haben gesehen, dass ich nachlässig werde, fast ohne Wache mit nur drei Autos fahre und nicht schneller als 80 Stundenkilometer." Dennoch lässt er bis heute die Straßen nicht sperren, wenn er unterwegs ist, anders als andere russische Potentaten.

Jewkurow, vor eineinhalb Jahren von Medwedjew eingesetzt, war das Gegenmodell zum Protz Kadyrow, er ist bescheiden, persönlich integer, fähig zum Dialog mit Menschen, deren Kinder erschossen wurden.

Menschen wie der alte Magomed Auschew. Sein Sohn Makscharip war ein Oppositioneller, ein erbitterter Gegner des Vorgängerpräsidenten Murat Sjasikow gewesen. Aber erschossen wurde er unter Jewkurow. Mehr noch: Kurz darauf starben seine Witwe und ihre Mutter, dazu zwei männliche Verwandte auf dem Weg nach Hause von der Pilgerfahrt nach Mekka, das Auto voller Geschenke.

"Jewkurows erste drei Monate waren wunderbar, es gab fast keine Entführungen, fast keine Gewalt", sagt Auschew: "Aber er hat nichts zu sagen. Moskau entscheidet allein. Jewkurow könnte höchstens zurücktreten."

In der Explosion unter der Moskauer Geheimdienstzentrale (FSB) am Montag klingt das Echo jener Sondereinsätze nach, die nach Ansicht der Inguschen vor allem Unschuldige treffen. "Für einen Getöteten gehen zwanzig Männer in den Wald", sagt der alte Auschew.

"Wir liegen vor den Eltern auf den Knien"

Jewkurow hingegen besteht darauf, dass der FSB Einsätze mit ihm abspricht, und kritisiert, dass die Angehörigen nicht ehrlich sind: "Oft haben wir Informationen, dass die Kinder Kontakte zum Untergrund haben, wir liegen vor den Eltern auf den Knien. Aber sie sagen nicht die Wahrheit."

Bislang wurde kein Polizist für Übergriffe verurteilt. 1,7 Milliarden Rubel, umgerechnet 42 Millionen Euro, fast ein Fünftel des Haushaltes, wurde von korrupten Beamten veruntreut - Strafen gab es nicht, und wenn doch, wurden nur geringe Geldbußen verhängt.

Als Jewkurow die Richter dafür kritisierte und drohte, Korruptions- und Folterverfahren vor Gerichte in anderen Republiken zu bringen, wandten diese sich an den Kreml: Jewkurow versuche, die Justiz zu beeinflussen. Der Präsident hat den Geheimdienst gegen sich und die Gotteskrieger, den Staatsanwalt, Minister und bald das eigene Volk. Er ist Russlands einsamster Politiker.

Aber er könnte bald Gesellschaft bekommen. Der neue Kreml-Beauftragte Chloponin, ein sibirischer Rohstoff-Manager, soll die Wende herbeiführen und durch eine wirtschaftliche Blüte den Islamisten die Argumentationsbasis nehmen.

Dabei kritisiert Gadschimurat Kamalow, Verleger der kritischen dagestanischen Wochenzeitung Tschernowik, dass der Kaukasus zu viel, nicht zu wenig Geld bekomme, und der Kreml so gerade den Terror fördere. Die Zuwendungen versickern, korrupte Beamte rechnen Schulen, Krankenhäuser und Fabriken ab, die nie gebaut werden. Ehrliche Unternehmen werden durch Preiskriege ruiniert. "Die Korruption nährt die Wut und davon profitieren die Militanten", sagt Kamalow: "Der Staat selbst ist kriminell."

Dagestan ist ein ethnischer Flickenteppich mit mehr als 30 Völkern, die Macht wird nach einem komplizierten Schüssel verteilt. Vor wenigen Wochen wurde endlich Magomedsalam Magomedow zum Präsidenten ernannt, ein Ökonom, vor allem aber Sohn Magomedali Magomedows, der die Republik 19 Jahre lang beherrschte.

Unter Magomedow senior, genannt "der Großvater", blühte die Korruption. Der Sohn gibt sich liberaler, aber Kamalow warnt vor einem Rückfall in schlechte alte Zeiten. "Bei uns wird nichts produziert", sagt Kamalow, "wir keltern weniger Wein als Dänemark. Das einzige einträgliche Geschäft ist der Verkauf von Posten."

Doch selbst wenn der Idealfall einträte, bestechliche Beamte entlassen würden und das Geschäftsklima sich besserte, wäre dies nicht das Ende des Terrors, betont der Verleger Kamalow: "Mit einem harten Kern Islamisten müssen wir leben."

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