Russische Auswanderer:Auf der Flucht vor Putins Regime

Russische Auswanderer: Demonstranten bei einem unangemeldeten Protest gegen die Politik des Kremls. Andersdenkende haben es in Russland immer schwerer.

Demonstranten bei einem unangemeldeten Protest gegen die Politik des Kremls. Andersdenkende haben es in Russland immer schwerer.

(Foto: AFP)

Wegen der politischen Lage verlassen immer mehr Russen ihre Heimat. Viele sind mittlerweile in Deutschland. Wie blicken sie heute auf Russland zurück?

Von Alexander Kauschanski

Als Ali Feruz aus dem Flugzeug steigt und deutschen Boden betritt, atmet er erst mal tief durch. "Ist das wirklich passiert?", fragt er sich. Ist er tatsächlich dem Urteil eines Moskauer Gerichts entkommen, das für ihn Gefängnis, Folter und womöglich sogar den Tod bedeutet hätte? Es dauert einen Moment bis Feruz begreift: "Ich bin jetzt in Sicherheit."

Dass Demokratie, Meinungsfreiheit und Menschenrechte in Russland ausgehöhlt werden, ist keine Neuigkeit. Aber dass der repressive Staat immer mehr Menschen dazu bringt, auszuwandern, ist eine neuere Entwicklung. Mehr als 100 000 Russen emigrieren jährlich. Allein in der Bundesrepublik ist die Zahl russischer Einwanderer von 2010 bis 2017 um knapp 210 000 gestiegen.

Und es ist nicht zu erwarten, dass die Auswanderungswelle nachlässt. Jeder vierte Russe denkt darüber nach, das Land zu verlassen. 15 Prozent ziehen sogar in Erwägung, dauerhaft im Ausland bleiben. Das ergab eine Befragung des unabhängigen Meinungsforschungsinstituts Lewada.

Wer in Russland über Auswanderung nachdenkt, wünscht sich häufig bessere Lebensbedingungen und Sicherheit für die eigenen Kinder. Auch der Willkür des russischen Staates fühlen sich viele von ihnen ausgeliefert. Die Geschichte von Ali Feruz steht stellvertretend für die Sorgen, die diese Menschen umtreiben.

Ein Entscheid, der einem Todesurteil gleichkommt

Es ist der 1. August 2017 in Moskau, als Feruz die Repressionen der russischen Staatsgewalt mit voller Wucht spürt. Als der 30-jährige Journalist auf die Straße tritt, warten dort schon Polizisten auf ihn. Sie nehmen Feruz fest, verfrachten ihn in ihren Wagen. Wenig später stellen sie ihn vor ein Moskauer Gericht. Es dauert nicht lange, bis das Urteil fällt: Sein Aufenthalt in Russland wird nicht länger geduldet. Als Bürger Usbekistans soll Feruz zwangsausgewiesen werden.

"Der Gerichtsentscheid kam einem Todesurteil gleich", erinnert sich Feruz. "Ich dachte mir: besser auf der Stelle sterben, statt in Usbekistan zu Tode gefoltert zu werden." Noch im Gerichtssaal greift er nach dem Kugelschreiber seines Anwalts. Er sticht auf seine Venen ein. Der Suizidversuch misslingt. Feruz landet in einem Gefängnis für Migranten.

Dass Feruz die usbekische und nicht die russische Staatsbürgerschaft besitzt, entschied er nicht selbst. Als er 1987 in Usbekistan geboren wird, gehört das Land zur noch existierenden Sowjetunion. Nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Riesenreichs pendelt Feruz zwischen Russland und Usbekistan. In Russland geht er zur Schule, dort besucht er auch die Universität. Doch zum Zeitpunkt seiner Volljährigkeit hält er sich in Usbekistan auf - und muss den dortigen Pass annehmen.

2008 nimmt der usbekische Geheimdienst Feruz fest. Tagelang foltern die Mitarbeiter ihn in einem abgelegenen Gefängnis. "Ich wusste nicht, warum es gerade mich traf", erzählt er. "Sie wollten, dass ich meine Freunde ausspioniere. Zuerst sträubte ich mich, dann sicherte ich zu, mit ihnen zu kooperieren." Der Geheimdienst lässt ihn frei. Feruz flieht. Er geht zurück nach Russland, seine zweite Heimat. Auch wenn er sich selbst nicht so sieht: Seine usbekische Staatsangehörigkeit macht ihn in Russland zum Ausländer.

In Moskau beginnt Feruz einen neuen Lebensabschnitt. Er arbeitet als Journalist und entdeckt seine Homosexualität. Immer wieder beantragt er in Moskau Asyl. "Bei den Terminen zähle ich meine Gründe immer wieder auf: Die Folter durch den usbekischen Geheimdienst, meine Flucht und meine sexuelle Orientierung, die in Usbekistan als Verbrechen gilt", sagt Feruz. Das scheint nicht zu zählen. Mal für Mal lehnen die russischen Behörden seine Gesuche ab.

"Bitte helft mir, zu überleben"

Als investigativer Journalist berichtet Feruz über Wahlmanipulationen in Usbekistan. Er kritisiert, dass in Russland die Rechte von Arbeitsmigranten verletzt werden. Beiden Staaten ist er so ein Dorn im Auge. Dann geht es Schlag auf Schlag. An jenem Augusttag wird Feruz festgenommen, verurteilt, ins Gefängnis gesteckt und soll nach Usbekistan abgeschoben werden. Doch dazu kommt es nicht. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte setzt das Urteil aus Moskau vorerst außer Kraft. Menschenrechtler kämpfen für seine Freilassung.

Aus seiner Zelle schreibt er einen Brief: "Ich bin nun davon überzeugt, dass ich nicht so stark bin, wie so viele Menschen denken. Bitte helft mir, zu überleben." Wie ihm, so erzählt er später, ginge es vielen Aktivisten in Russland. "Sie bleiben trotz aller Ungewissheit und Gefahr dort. Erst wenn sie begreifen, dass sie sich tatsächlich in Lebensgefahr befinden, wandern sie aus."

Ein halbes Jahr später sitzt Feruz wieder auf der Anklagebank. Die Entscheidung der Richter: Er muss Russland verlassen, nach Usbekistan wird er aber nicht abgeschoben. Feruz darf in ein anderes Land ausreisen. Nach Beratungen mit Menschenrechtsorganisationen und Diplomaten steht seine Entscheidung fest: Am 15. Februar 2018 landet er in Deutschland.

Seine Freilassung durch das Gericht betrachtet Feruz nicht als Zeichen eines funktionierenden Justizsystems. "Solche Entscheidungen sind Versuche, die undemokratische Realität mit öffentlichkeitswirksamen Aktionen zu verdecken." Das Urteil fällt schließlich in der Zeit vor der bevorstehenden Präsidentschaftswahl und Fußballweltmeisterschaft in Russland.

Auch vor den Olympischen Winterspielen in Sotschi 2014 kam es zu einer Massenentlassung von politischen Häftlingen. Neben Greenpeace-Aktivisten wurden damals auch die Sängerinnen der Punk-Gruppe "Pussy Riot" und der oppositionelle Oligarch Michail Chodorkowski freigelassen.

Wahl zwischen Gefängnis und Exil

Deutschland gewährt Feruz Asyl. Er nimmt bereits Deutschkurse, lernt fleißig. Als Journalist will er auch von hier aus weiter daran arbeiten, die politische Situation in seiner Heimat zu verbessern.

Dieses Ziel verbindet ihn mit Olga Romanowa. Lange Jahre hat sie sich mit ihrer Organisation "Russland hinter Gittern" für bessere Haftbedingungen in russischen Gefängnissen eingesetzt. So lange, bis ihr selbst die Verhaftung drohte. "Im Sommer letzten Jahres haben Sicherheitsbeamte die Räume unserer Organisation durchsucht", erzählt sie. Die Behörden behaupteten, die Menschenrechtler hätten Staatsgelder veruntreut.

Das Argumentationsmuster war Romanowa nicht neu. Erst ein paar Wochen zuvor war der Regisseur Kirill Serebrennikow unter demselben Vorwand verhaftet worden. "Noch am selben Tag entschloss ich mich, meine Sachen zu packen und nach Berlin auszuwandern", sagt Romanowa.

Das Motiv der Regierung in Russland ist dabei klar: Eine starke Zivilgesellschaft stellt für das autoritäre Regime eine Bedrohung von unten dar. Der Kreml will keine Revolutionen wie in der Ukraine oder Georgien. Deshalb versucht er, prominente, aber auch unbekannte Aktivisten auszubremsen. Sobald sie eine unsichtbare rote Linie überschreiten, müssen sie zwischen Gefängnis und Exil wählen.

Seit September vergangenen Jahres arbeitet Romanowa in Berlin beim unabhängigen russischsprachigen Fernsehsender RTVD. Ihre Organisation leitet sie aus der Ferne weiter. "Hier in der deutschen Hauptstadt habe ich das Gefühl, in einem mir unbekannten Stadtteil Moskaus gelandet zu sein", sagt sie. "Die Stadt ist voll von russischen Aktivisten."

Die Mittelschicht wandert ab

Einerseits kommt das den Bürgerrechtlern entgegen. Hier und andernorts in Europa, wohin viele Russen auswandern, können sie ihre Kontakte ausbauen und aus dem Exil weiterarbeiten.

Andererseits sind es vor allem junge, gebildete Menschen und gut ausgebildete Fachkräfte aus der Mittelschicht in den Großstädten, die Russland verlassen. Sie erwarten sich vom Leben in der Heimat nichts mehr. Laut einer Studie des "Agentswo Kontakt" planen mehr als 40 Prozent der russischen Wirtschaftsspitze, ihr Land zu verlassen.

Die Abwanderung bedeutet für Russland einen Verlust demografischen, sozialen, wirtschaftlichen und intellektuellen Kapitals. Zugleich verliert die innerrussische Opposition an Einfluss und Kämpfern.

Zu den Teilen der Mittelschicht, die es aus Russland hinausdrängt, gehörten auch Denis Petrow [Name geändert] und seine Familie. Ihre Geschichte ist weniger dramatisch als die der Aktivisten, aber auch sie hatten triftige Gründe, auszuwandern.

In Moskau arbeitete der 35-Jährige als Abteilungsleiter eines globalen Elektrounternehmens. Lange planten er und seine Frau aus Russland wegzuziehen. Schließlich fand sie einen Job in der deutschen Pharmabranche. Ohne zu zögern, verließen sie das Land. Seit einem Jahr lebt die Familie in einem Münchner Vorort. Petrow besucht hier Deutschkurse und sucht Arbeit.

"Finanziell ging es uns in Moskau gut", erzählt Petrow. "Aber mit Russland ging es stetig bergab. Das wurde mir spätestens mit den manipulierten Parlamentswahlen 2011 bewusst." Er schildert, wie eine Bekannte sich damals als Wahlbeobachterin engagierte. Nachdem sie lautstark auf Manipulationen hinwies, erhielt sie Drohbriefe, vermutlich von Staatsbehörden. Alarmiert floh sie aus Russland und lebt heute in den USA.

Rückkehr unmöglich?

Ausgewanderte Aktivisten wie Feruz oder Romanowa versuchen weiterhin, Einfluss auf ihre Heimat zu nehmen. Über unabhängige Online-Medien und Fernsehsender klären sie kritisch über die politische und soziale Lage in Russland auf. Doch vom Ausland aus ist das schwierig. Den russischen Behörden und dem Staatsfernsehen fällt es so umso leichter zu kontrollieren, was die Augen und Ohren der Mehrheitsbevölkerung erreicht und was nicht.

Und wie sehen die Auswanderer die Zukunft für sich und ihre Heimat? "Russland ist ein unberechenbares Land", sagt Romanowa. "Ob morgen jemand anderes als Putin das Land regiert oder ob Atomraketen in Richtung Florida fliegen: Ich kann es nicht sagen. Mit dieser Ungewissheit muss die russische Bevölkerung Tag für Tag leben."

Dennoch steht für die Aktivistin fest: "Sobald es die Zustände wieder erlauben, werde ich zurückkehren und in Russland meine Arbeit weiterführen." Dass dies schon bald der Fall sein könnte, hält sie für unwahrscheinlich.

Wie Romanowa denkt einer Studie zufolge etwa die Hälfte der Emigranten daran, in die Heimat zurückzugehen, sieht darin aber derzeit keine ernsthafte Option. Das gilt auch für Petrow. "Solange ich nicht über die Regierung mitentscheiden kann, solange das Bildungsangebot, die Infrastruktur und das Gesundheitssystem in Russland immer schlechter werden, solange die Mehrheit der Gesellschaft selbst keine Verantwortung für ihr Land übernehmen will und meine Steuern in die Taschen korrupter Politiker fließen, solange werde ich Russland fernbleiben." Jeder dritte russische Auswanderer schließt eine Rückkehr sogar aus.

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