Süddeutsche Zeitung

Russische Ansprüche:Wem gehört der Nordpol?

  • Russland beansprucht in der Arktis ein Gebiet für sich, das doppelt so groß ist wie Frankreich.
  • Auch die anderen Arktisanrainer stecken derzeit ihre Claims im Eismeer ab. Am Ende soll eine UN-Kommission über die Ansprüche entscheiden.
  • In dem Gebiet werden große Rohstoffvorkommen vermutet. Die Anrainerstaaten möchten diese ausbeuten. Umweltschützer fordern dagegen seit Jahren die Einrichtung einer Schutzzone um den Nordpol.

Von Gunnar Herrmann

Die Nachricht hört sich ein verrückt an: Russland beansprucht in dieser Woche bei den Vereinten Nationen ein Gebiet in der Arktis, das 1,2 Millionen Quadratkilometer groß ist, fast doppelt so groß wie Frankreich. Bedrohlich klingt das, nach Moskauer Großmachtphantasien. Dabei ist die Nachricht eigentlich nur eine kleine Statusmeldung in einem großen diplomatischen Spiel, das bereits seit Jahren rund um den Nordpol gespielt wird. Es heißt: Wem gehört das Eismeer? Und wem gehören die sagenhaften Rohstoffreserven, die dort vermutet werden? Nicht nur Russland spielt dieses Spiel mit hohem Engagement.

Groß sind dabei nicht nur die Flächen, um die es geht, sondern auch der Aufwand, mit dem die fünf Arktis-Anrainer den "Wettlauf um die Arktis" inszenieren. Der aktuelle russische Vorstoß ist da im Vergleich zu früheren Aktionen geradezu ein Muster an Bescheidenheit. Dänische und kanadische Minister ließen schon ihr Militär mit Helikoptern anrücken, um sich auf die strategisch wichtige Insel Hans zwischen Grönland und Kanada fliegen zu lassen. Der Streit um die Insel schwelte jahrelang. Russland schickte 2007 sogar einen Eisbrecher zum Nordpol. Die von Moskau entsandten Forscher bohrten ein Loch ins ewige Eis und ließen ein U-Boot zu Wasser, das schließlich in über 4000 Metern Tiefe ein russisches Fähnchen auf dem Meeresgrund absetzte. "Der Nordpol gehört uns!", sollte das Nationalsymbol signalisieren.

Der spektakuläre Wettstreit hat einen komplizierten und weniger schlagzeilenträchtigen Hintergrund: die 1994 in Kraft getretene Seerechtskonvention der Vereinten Nationen. Ihr zufolge kann ein Staat das von ihm beherrschte Meeresgebiet unter bestimmten Voraussetzungen erweitern. Standardmäßig gilt ein Streifen von 200 nautischen Meilen (etwa 370 Kilometern) vor der Küste eines Staates als "Exklusive Wirtschaftszone", unter anderem kontrolliert der Staat dort die Ausbeutung von Rohstoffen. Der Seerechtskonvention zufolge kann diese Zone erweitert werden, wenn etwa ein unterseeisches Gebirge als Teil der Landmasse betrachtet wird und über die 200-Meilen-Zone hinausragt. Historisch betrachtet ein großer Fortschritt: Früher führten Länder Krieg um die Frage der Grenzziehung, heute sollen Geodaten und Experten entscheiden. Die Länder müssen nur ihre Claims abstecken - das ist es, was derzeit geschieht.

Nun ist das Polarmeer voll von unterseeischen Gebirgen. Und die Arktisanrainer haben in den vergangenen Jahren eine Menge Forschungsmissionen bezahlt, um sie möglichst genau zu kartografieren. Die Geodaten bilden die Basis für Gebietsansprüche. Die kann ein Staat bei einer UN-Kommission in New York anmelden, die schließlich entscheidet, wo genau im Meer die Zonengrenze verläuft. Neben Russland beanspruchen auch Norwegen, Kanada und Dänemark (für seine halbautonome Insel Grönland) bereits große Gebiete im Eismeer für sich. Die USA haben auch schon Daten vor Alaska gesammelt, allerdings konnten sie noch keine Gebietsansprüche anmelden, denn sie haben die Seerechtskonvention noch nicht ratifiziert - was unter anderem damit zusammenhängt, dass viele Republikaner den Vereinten Nationen grundsätzlich skeptisch gegenüberstehen.

Vermutlich wird Washington aber irgendwann nachziehen und dann in den großen Wettstreit um den Nordpol einsteigen. Wobei das Wort "Wettstreit" einen wichtigen Aspekt ausblendet. In einem zentralen Punkt sind sich die fünf Arktisstaaten nämlich einig: Sie wollen das Eismeer unter sich aufteilen. In Frage gestellt wird dieses Prinzip derzeit vor allem von Nichtregierungsorganisationen, etwa von Greenpeace. Sie warnen, der Wettstreit um die Ressourcen im Eis sei eine fatale Fehlentwicklung und gefährde das Ökosystem am Nordpol. Eigentlich, so ihr Argument, sei das Gebiet Eigentum der gesamten Menschheit - und sollte deshalb zu einer internationalen Schutzzone erklärt werden. So wie man das im Antarktisabkommen mit dem Polargebiet im Süden getan hat. Am Südpol dürfen keine Rohstoffe ausgebeutet werden.

Es gibt gute Argumente gegen die Idee einer internationalen Schutzzone.

  • Die Situation am Nordpol ist anders als Südpol: Die Arktis ist anders als die Antarktis zum Teil besiedelt, wirtschaftliche Nutzung findet dort schon lange statt. Man könnte sie nicht einfach stoppen, ohne zum Beispiel die Entwicklungschancen indigener Völker zu beschneiden. Außerdem gibt es vereinzelt Schifffahrtsrouten durchs Eismeer.
  • All das muss kontrolliert und geschützt werden, und dazu braucht es klare Zuständigkeiten, die bei der Aufteilung des Gebietes unter den Staaten gegeben wäre. Aber wer sollte eine internationale Schutzzone dieser Größe sichern?

Trotz dieser Einwände: Der Vorschlag der Umweltschützer verdient mehr Beachtung. Denn der "Wettlauf um die Arktis", den die Anrainerstaaten seit Jahren betreiben, ist in mehrfacher Hinsicht absurd.

  • Erstens widerspricht das Vorhaben, in der Arktis große Mengen fossiler Brennstoffe zu fördern, den Klimaschutzbestrebungen. Statt immer neue Öl- und Gasquellen zu suchen, wäre es besser, auf alternative Energien zu setzen, so das Argument der Umweltschützer.
  • Zweitens wird beim Wettstreit um die Arktis um etwas gestritten, was es bis jetzt nur auf dem Papier gibt. Die Staaten verteilen das Fell nicht nur, bevor der Bär erlegt ist. Sie wissen außerdem noch nicht mal genau, ob es sich um einen großen Eisbären oder eher um einen Teddy handelt. Bislang basieren alle Zahlen zu den angeblich gigantischen Rohstoffvorkommen nämlich nur auf Schätzungen. Ob die zutreffen, muss man erst sehen.
  • Drittens: Selbst wenn unter dem Eis große Öl- und Gasreserven schlummern, ist noch nicht sicher, ob sich die Förderung lohnt. Die Technologie für arktische Ölabenteuer muss erst noch entwickelt werden. Sicher ist schon jetzt: Sie wird sehr teuer sein. Derzeit erscheinen Alternativen wie Fracking als lohnendere Alternative.

Die vielen Fragezeichen sind letztlich eine gute Nachricht. Solange in der Arktis nur um potenzielle Reichtümer und nicht um echtes Geld gestritten wird, bietet die Region nur sehr begrenzten Stoff für gefährliche Konflikte zwischen den Staaten, die aus dem diplomatischen Spiel kriegerischen Ernst machen könnten. Außerdem: Solange der große Wettlauf zum Nordpol nur mit Geodaten und Juristen, nicht aber mit Bohrplattformen und Tankern ausgetragen wird, bleibt der arktischen Natur noch eine Schonfrist. Nicht nur die fünf Anrainerstaaten, auch die anderen Länder der Welt sollten diese Frist nutzen, um gemeinsam eine Lösung zu finden, die möglichst alle Interessen - die wirtschaftlichen wie auch die ökologischen - in Einklang bringt. Damit eine der letzten unberührten Gegenden der Erde wenigsten zum Teil erhalten werden kann.

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