Das Projekt klang nach Chefsache. Gleich drei Regierungsmitglieder sollten sich darum kümmern, den Kampf gegen sexuelle Gewalt an Kindern voranzutreiben: Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger sollte ein neues Gesetz ausarbeiten, Familienministerin Kristina Schröder kümmerte sich um Aufklärungs- und Präventionskampagnen und die damalige Bildungsministerin Annette Schavan sollte Forschungsprojekte zum Thema anstoßen.
Auch die Kanzlerin schaltete sich ein, denn: "Das ist eine Bewährungsprobe für unsere ganze Gesellschaft. Es kommt darauf an, dass Menschen, die so etwas erfahren haben, sich in dieser Gesellschaft wieder anerkannt fühlen und wenigstens das Stück Wiedergutmachung bekommen, was man im Nachhinein noch schaffen kann", so Merkel.
Damals, im März 2010, wurde bekannt, dass Kinder und Jugendliche in zahlreichen Einrichtungen über Jahre hinweg Opfer sexueller Gewalt geworden waren. In kirchlichen Einrichtungen, Internaten, Kinderheimen, Krankenhäusern. Zehntausende Fälle, zum Teil aus den sechziger und siebziger Jahren. Viele Betroffene fanden jahrzehntelang nicht den Mut, über den Missbrauch zu sprechen.
Nun sollte sich in der Gesellschaft etwas ändern. Opfer sollten eine Stimme bekommen, ihnen sollte besser geholfen werden. Die drei Ministerinnen beriefen einen Runden Tisch ein. Mit Vertretern von Opferverbänden, mit Psychologen, mit Experten aus Kinder- und Jugendarbeit, mit Verantwortlichen aus der Politik. Eine Hotline wurde eingerichtet, innerhalb kürzester Zeit meldeten sich dort mehr als 20.000 Betroffene.
Nun, drei Jahre später, spricht Leutheusser-Schnarrenberger von einem "Meilenstein" und "konkreten Ergebnissen", die erreicht worden seien. Die "Sensiblität gegenüber sexuellem Missbrauch" sei in der Gesellschaft "deutlich angestiegen". Auch Schröder lobt die "vielfachen Maßnahmen", die die Bundesregierung angestoßen habe.
Doch was ist seit März 2010 tatsächlich passiert? Mehr als 250 Seiten stark ist der Abschlussbericht zum Runden Tisch. Er enthält eine lange Liste von Ideen, wie Missbrauchsopfern besser geholfen werden kann. Vorgelegt wurde er bereits Ende 2011. Danach arbeitete die Regierung an der Umsetzung und Konkretisierung einzelner Vorhaben. Die wichtigsten Punkte:
- Ein verbesserter Opferschutz und längere Verjährungsfristen für Taten, die in Zusammenhang mit sexuellem Missbrauch stehen. Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger hatte dazu einen Gesetzentwurf vorgelegt. Doch bisher hat sich der Rechtsausschuss des Bundestages nicht damit befasst.
- Ein Fonds in Höhe von 100 Millionen Euro, aus dem Entschädigungen für Opfer bezahlt werden können. Er soll je zur Hälfte vom Bund und von den Ländern getragen werden und unbürokratische Hilfe für Betroffene bieten. Bezahlt werden könnten mit dem Geld etwa Therapien und Hilfsangebote, die nicht von den Krankenkassen übernommen werden. Oder Überbrückungsleistungen, wenn Opfer sehr lange auf einen Therapieplatz warten müssen.
- Mehr praktische Hilfen für Betroffene: Damit sich kindliche Opfer sexueller Gewalt in der Vielfalt von Hilfsangeboten, Unterstützungsleistungen und Gesetzesparagrafen besser zurechtfinden, sollen ihnen künftig "Lotsen" zur Verfügung gestellt werden, die die Funktion einer "zentralen Anlaufstelle" übernehmen sollen.
- Bessere Aufklärungskampagnen und Präventionsmaßnahmen. In dem Bericht wurden "Leitlinien zur Prävention" gefordert, die "in allen Institutionen des Bildungs-, Erziehungs-, Gesundheits- und Sozialsektors, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, fest verankert, konkretisiert, regelmäßig überprüft und weiterentwickelt werden" sollen. Das Familienministerium verfolgt außerdem das Ziel, "Kinder durch eine Sensibilisierungs-und Aufklärungskampagne zum Thema sexualisierte Gewalt direkt zu stärken".
- Verbesserte Ausbildung und Qualifizierung von Beschäftigten oder ehrenamtlichen Mitarbeitern, "die regelmäßigen Kontakt zu Kindern und Jugendlichen haben". Für sie soll es zum Beispiel zur Pflicht werden, ein Führungszeugnis vorzulegen, damit "einschlägig vorbestrafte Personen von Tätigkeiten mit Kindern und Jugendlichen ausgeschlossen werden".
- Geld für Forschungsprojekte, um mehr Erkenntnisse über die Ursachen sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen zu sammeln.
Viele gute Vorsätze - doch Kritiker beklagen, dass nur ein kleiner Teil der Vorhaben bisher verwirklicht wurde. "Es gibt ein Umsetzungsdefizit", sagt etwa Fredi Lang vom Berufsverband Deutscher Psychologen, der an den Sitzungen des Runden Tisches teilgenommen hat. Bei den Präventions- und Sensibilisierungsprojekten sei zwar immerhin etwa die Hälfte der Vorhaben realisiert worden, doch "das ist noch immer ein gutes Stück zu wenig", so Lang.
Der Hilfsfonds im Umfang von 100 Millionen Euro ist noch immer nicht aufgelegt. 50 Millionen hat der Bund bereits zugesagt, die andere Hälfte sollen eigentlich die Länder tragen. Sie weigern sich aber, solange es noch keine eindeutige Regelung dazu gibt, wie Betroffenen mit dem Geld unbürokratisch geholfen werden könne. "Der Bund muss einfach in Vorzahlung gehen und damit die Länder unter Druck setzen", fordert Thomas Schlingmann von der Beratungsstelle Tauwetter, die missbrauchte Männer in Berlin unterstützt.
Das will die Regierung nun offenbar tun. "Es ist für mich vollkommen klar, dass wir noch in dieser Legislaturperiode diesen Fonds auf den Weg bringen müssen", versprach Familienministerin Schröder.
"Wir bräuchten einen Rechtsanspruch auf Beratung"
Opfervertreter wie Schlingmann, der in einer Unterarbeitsgruppe des Runden Tisches mitgearbeitet hat, fordern, dass das Angebot der Hilfsstellen endlich ausgebaut wird: "Das wurde bisher immer verschoben, dabei gibt es überzeugende Konzepte. Wir bräuchten für Missbrauchsopfer einen Rechtsanspruch auf Beratung. Dann müssten in Städten und Gemeinden abhängig von der Bevölkerungszahl Beratungsplätze zur Verfügung stehen."
Schlingmann empört es, dass der Gesetzentwurf zur Stärkung der Opferrechte seit Mitte 2011 unbearbeitet im Rechtsausschuss liegt: "Ich verstehe das nicht." Offensichtlich lägen die Prioritäten der Politik anders. "Der Entwurf muss endlich aus der Versenkung geholt werden", so Schlingmann.
Streit gibt es in der Koalition vor allem darüber, ob die Verjährungsfrist für sexuellen Missbrauch von bisher drei auf bis zu 30 Jahre angehoben werden soll. Während sich viele in der Union klar dafür aussprechen, zögert die FDP noch. Sie befürchtet ein negatives Signal für die Opfer, denn viele Prozesse könnten nach Meinung liberaler Justizpolitiker mit Freisprüchen enden, weil die Beweislage nach so vielen Jahren schwierig sei.
Ein Kompromiss könnte darin bestehen, die Verjährungsfrist nicht zum Zeitpunkt der Tat beginnen zu lassen, sondern später. Diskutiert wird, dass die Frist erst startet, wenn das Opfer 21 oder sogar 25 Jahre alt ist.
"Bis Ostern muss das durch sein", fordert Thomas Silberhorn, Obmann der CSU/CSU im Rechtsausschuss. Auch Marco Buschmann von der FDP ist sich sicher, dass ein Gesetz noch in dieser Legislaturperiode zustande kommt. "Wir haben den festen Willen, dass wir jetzt schnell zur einer Lösung kommen", so Buschmann.
Ein beachtlicher Optimismus - immerhin ist seit Ende 2011 nicht mehr viel passiert. "Es darf keinesfalls beim unverbindlichen Mitgefühl der Politik bleiben", sagt Johannes-Wilhelm Rörig, der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung.