Rechtsstaatlichkeit:Europäischer Gerichtshof ruft Rumänien zur Ordnung

Rechtsstaatlichkeit: 2017 protestierten Tausende Bürger gegen Liviu Dragnea. Der Politiker wollte die Strafbarkeit von Korruption in Rumänien lockern und wurde später wegen Betrugs inhaftiert.

2017 protestierten Tausende Bürger gegen Liviu Dragnea. Der Politiker wollte die Strafbarkeit von Korruption in Rumänien lockern und wurde später wegen Betrugs inhaftiert.

(Foto: Vadim Ghirda/AP)

Das Land hat bei der Korruptionsbekämpfung EU-Auflagen zu erfüllen, hindert aber seine Justiz daran. Jetzt betont der EuGH den Vorrang des europäischen Rechts - und die Mahnung geht nicht nur an Bukarest.

Von Wolfgang Janisch, Karlsruhe

Mit einem weiteren Urteil hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) an diesem Dienstag den Versuch unternommen, Rumänien auf den Pfad der Rechtsstaatlichkeit zurückzuholen. Ein Land also, nach dessen EU-Beitritt im Jahr 2007 die Justiz zunächst einen selbstbewussten Kurs zur Bekämpfung der Korruption einschlug, der auch die obersten Etagen nicht schonte. Und ein Land, in dem ebendiese Justiz seit einigen Jahren mithilfe von "Reformen" in die Schranken gewiesen werden soll, maßgeblich betrieben von Liviu Dragnea, dem einst starken Mann in der sozialistischen PSD - der dann 2019 wegen Amtsmissbrauchs ins Gefängnis musste.

Auslöser des EuGH-Urteils sind mehrere rumänische Verfahren wegen Straftaten wie Korruption und Mehrwertsteuerbetrug im Zusammenhang mit EU-Geldern. Die Verfahren sollten in Urteile auch gegen ehemalige Parlamentarier und Minister münden, aber irgendwie kam immer der rumänische Verfassungsgerichtshof dazwischen. Einige Verurteilungen durch den Obersten Kassations- und Gerichtshof, der eine Art rumänischer Bundesgerichtshof ist, erklärten die Verfassungsrichter in Bukarest kurzerhand für nichtig. Unter anderem deshalb, weil die Urteile nicht durch einen auf Korruption spezialisierten "Spruchkörper" getroffen worden seien - wegen einer angeblich fehlerhaften Zusammensetzung des Gerichts also. In einem anderen Fall ging es um die Frage, ob in den Korruptionsprozessen Abhörprotokolle des rumänischen Geheimdiensts als Beweismittel verwendet werden durften - was die Verfassungsrichter untersagt hatten.

Der EuGH notiert zunächst, dass Rumänien in Sachen Korruption unter besonderer Kuratel der EU steht, weil das Land beim Beitritt im Jahr 2007 nicht alle Vorgaben erfüllte und deshalb jährlichen Überprüfungen unterworfen wurde. Dieses Verfahren ist laut EuGH selbstredend verbindlich - und zeitigt einige Folgen für das Justizsystem. Dass ein Verfassungsgericht Urteile wegen angeblich fehlerhaft besetzter Gerichte für nichtig erklären kann, sei jedenfalls dann nicht akzeptabel, wenn dahinter ein Missbrauch steckt. Oder, in den Worten des EU-Gerichts: Wenn dadurch eine "systemische Gefahr der Straflosigkeit" bei schwerem Betrug und Korruption geschaffen wird. Denn durch die Intervention des Verfassungsgerichts würden die Korruptionsverfahren derart in die Länge gezogen, dass die Vorwürfe zu verjähren drohen.

Den rumänischen Gerichten, die an einer rechtsstaatlichen Linie festhalten wollen, droht damit der Konflikt mit dem eigenen Verfassungsgerichtshof. Dazu sagt der EuGH folgendes: Natürlich sind Urteile eines Verfassungsgerichts für die unteren Instanzen normalerweise bindend - aber eben nur, wenn dessen Unabhängigkeit gewährleistet sei. Dieser Fingerzeig weist auch nach Polen.

In dem Urteil untermauert der EuGH den Vorrang des EU-Rechts

Zudem spricht das EU-Gericht eine bizarre Disziplinarregelung an, die rumänischen Richtern eine Sanktion androht, falls sie ein Urteil ihres Verfassungsgerichtshofs nicht beachten. Der EuGH sieht darin eine Verletzung der richterlichen Unabhängigkeit - jedenfalls dann, wenn jede Abweichung und jeder Fehler eines unteren Gerichts geahndet wird. Disziplinarstrafen gegen Richter müssten auf "ganz außergewöhnliche Fälle beschränkt bleiben".

Es folgen Anmerkungen zum "Vorrang des Unionsrechts", deren Adressaten nicht nur in Bukarest, Warschau oder Budapest sitzen. 2020 hatte das deutsche Bundesverfassungsgericht der Europäischen Zentralbank und dem EuGH im Zusammenhang mit Anleihekäufen eine Überschreitung ihrer Befugnisse attestiert - obwohl der EuGH die Käufe schon durchgewinkt hatte. Das Karlsruher Gericht aktivierte einen nationalen Vorbehalt des Grundgesetzes, der aus seiner Sicht in seltenen Einzelfällen dem Recht der EU vorgeht.

Der EuGH geht dagegen vom unbedingten Vorrang des EU-Rechts aus und greift nun sehr weit zurück, um dies zu untermauern. Schon in der Rechtsprechung zum 1958 in Kraft getretenen EWG-Vertrag sei dieser Vorrang entwickelt worden - und Jahrzehnte später in den Vertrag von Lissabon eingegangen, samt ausdrücklicher Erklärung in der Schlussakte der Regierungskonferenz. Soll heißen: Dies ist keine neue Erfindung des EuGH.

Außerdem sei der Vorrang des Unionsrechts ein Gebot der "Gleichheit der Mitgliedstaaten". Diese Gleichheit sieht der EuGH gefährdet, wenn jeder Staat nach eigenen Regeln festlegen kann, wo das nationale Recht aufhört und das europäische beginnt. Verbindlich sei hier allein die Auslegung des EuGH. Daran könne selbst nationales Verfassungsrecht nichts ändern. "Die nationalen Gerichte sind verpflichtet, jede nationale Regelung oder Praxis, die einer Bestimmung des Unionsrechts mit unmittelbarer Wirkung entgegensteht, unangewendet zu lassen", lautet das richterliche Fazit.

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