Europäische Union:Parlament stellt sich gegen Kommission

Mateusz Morawiecki, Viktor Orban

Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki (links) und sein ungarischer Amtskollege Viktor Orbán müssen befürchten, dass die EU-Kommission bald Geld zurückhält.

(Foto: Czarek Sokolowski/AP)

Europa-Abgeordnete möchten, dass die Brüsseler Behörde den Regierungen in Polen und Ungarn wegen ihrer Rechtsstaatsverstöße endlich die Mittel kürzt. Notfalls wollen sie klagen.

Von Björn Finke, Brüssel

Die Europaabgeordneten sind sauer auf Kommissionschefin Ursula von der Leyen - und sie machen ihrem Ärger Luft. SPD-Parlamentarierin Birgit Sippel nennt einen Brief von der Leyens an Parlamentspräsident David Sassoli "skandalös", die niederländische Liberale Sophie in 't Veld spricht von "Müll" und einer "unverblümten Provokation". Der Grünen-Europaabgeordnete Daniel Freund beklagt in dem "dreisten" fünfseitigen Schreiben "juristische Spitzfindigkeiten" und "Haarspalterei". Die Politiker sind so aufgebracht, weil von der Leyen mit dem Brief eine Aufforderung des Parlaments abbügelte, endlich den neuen Rechtsstaatsmechanismus zu nutzen und Verfahren gegen Länder wie Polen und Ungarn zu eröffnen.

An diesem Montag steht das leidige Schreiben auf der Tagesordnung, wenn die Fraktionsvorsitzenden des Europaparlaments erstmals nach der Sommerpause konferieren. Die Abgeordneten könnten als nächsten Schritt eine Untätigkeitsklage gegen die Kommission beim Europäischen Gerichtshof in Luxemburg einreichen. Solch eine Entscheidung wird jedoch mit Sicherheit nicht am Montag fallen; zunächst würde sich wohl der Rechtsausschuss des Parlaments damit befassen. Die Verfahrensregeln geben den Abgeordneten Zeit bis 4. November, um eine Klage nach Luxemburg zu schicken.

Der neue Rechtsstaatsmechanismus erlaubt es der Kommission erstmals, EU-Mittel zu kürzen oder die Auszahlung zu verzögern, wenn im Empfängerland der Rechtsstaat nicht funktioniert und die Unabhängigkeit der Justiz eingeschränkt ist. Voraussetzung ist aber, dass die Missstände die ordnungsgemäße Verwendung des Geldes gefährden. So soll eine unabhängige Justiz ja auch darüber wachen, dass EU-Geld nicht veruntreut wird. Es darf nicht das Risiko bestehen, dass Richter und Ermittler davor zurückschrecken, gegen Regierungsstellen oder regierungsfreundliche Unternehmen vorzugehen.

Erst im Juli hat die Kommission in ihrem jährlichen Rechtsstaatsbericht über große Probleme in Polen und Ungarn geklagt. Dort bekämpfen die autoritären Regierungen von Mateusz Morawiecki und Viktor Orbán kritische Stimmen aus Justiz, Medien und Zivilgesellschaft.

Wenig überraschend lehnt das Duo den neuen Mechanismus ab und blockierte deswegen Ende 2020 den Corona-Hilfstopf und den EU-Haushalt. Morawiecki und Orbán lenkten erst ein, als ihnen auf einem Gipfel Zugeständnisse gemacht wurden: Demnach wird die Kommission keine Verfahren starten, bis der Europäische Gerichtshof über eine Klage Polens und Ungarns gegen die neuen Vorschriften befunden hat. Diese Klage ging im März ein. Außerdem wird die Kommission zusammen mit den Mitgliedstaaten Leitlinien erstellen, wie die Regeln angewandt werden. Diese Leitlinien sollen Anfang Herbst fertig sein.

"Was bringt es, jetzt einen Streit anzuzetteln?"

Die Brüsseler Behörde betont, bereits seit Jahresanfang nach Verstößen zu fahnden und Fälle vorzubereiten. Doch wann die ersten Mahnschreiben verschickt werden, ist offen. Das EU-Parlament setzte sich im vergangenen Jahr stark für die Etablierung dieser Regeln ein. Nun werden die Abgeordneten ungeduldig. Im März gaben sie der Kommission eine Frist bis Anfang Juni vor, um richtig loszulegen. Das brachte nichts. Daher drohte Parlamentspräsident Sassoli kurz darauf per Brief an die "Liebe Ursula" eine Klage an, sollte es nicht vorangehen. Im Juli stimmte eine breite Mehrheit der Abgeordneten für einen Beschluss, der die Forderungen Sassolis unterstützt.

Von der Leyen antwortete vorige Woche auf den Brief - und lehnte Sassolis Ansinnen aus formalen Gründen ab: Sein Schreiben schildere nicht konkret, gegen welche Rechtsstaatsverstöße ihre Behörde denn einschreiten solle und was sie versäumt habe. Insofern sei der Vorwurf der Untätigkeit juristisch haltlos.

Der Grünen-Europaabgeordnete Daniel Freund verlangt nun, die Untätigkeitsklage voranzutreiben. Diese sei "kein Selbstzweck", aber die Kommission müsse endlich den Rechtsstaat in Europa schützen: "Jeden Tag, an dem Sanktionen gegen Ungarn ausbleiben, nutzt Viktor Orbán, um die Demokratie zu zerstören."

Die größte Fraktion, die christdemokratische EVP, warnt jedoch vor einer Eskalation. "Das Parlament muss bei dem Thema Druck machen, das haben wir von der EVP immer unterstützt", sagt Fraktionschef Manfred Weber. "Aber was bringt es, jetzt einen Streit zwischen den Institutionen, zwischen Europäischem Parlament und EU-Kommission, anzuzetteln? Wir wollen ja beide das Gleiche", mahnt der CSU-Abgeordnete. Weber äußert auch Verständnis, dass die Behörde sich nicht hetzen lassen will: "Die ersten Fälle müssen sehr gut vorbereitet sein."

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