Süddeutsche Zeitung

Rostock-Lichtenhagen:Deutschland 1992, drei Tage im August

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Unter dem Beifall der Anwohner belagerten Neonazis vor 25 Jahren ein Ausländerheim. Die Flüchtlingszahlen galten als "unerträglich" - und lagen doch unter dem, was die CSU heute als Obergrenze fordert.

Von Heribert Prantl

Die massiven Ausschreitungen begannen im Herbst 1991 in Hoyerswerda - und sie hörten mit der tagelangen Belagerung des Ausländerwohnheims in Rostock-Lichtenhagen Ende August 1992 noch lang nicht auf. In Hoyerswerda waren ehemalige vietnamesische Vertragsarbeiter von Neonazis gejagt und dann von der Polizei aus der Stadt gekarrt, nach Frankfurt verbracht und dann per Flugzeug abgeschoben worden. In Rostock-Lichtenhagen, ein knappes Jahr später, ließ die Polizei die Brandschatzung eines Hochhauses mit vielen vietnamesischen Bewohnern geschehen.

Die Flüchtlingszahlen galten damals in der politischen Debatte als unerträglich hoch. Sie lagen jahrelang weit unter der 200 000er-Marke, die heute die CSU als Obergrenze markiert. 1992 war dann die Zahl der Flüchtlinge in Deutschland auf 438 191 gestiegen. Im Jahr 1991 waren 168 023 Asylanträge entschieden worden. Aber das Vokabular der Politik war schon seit 1989 immer giftiger geworden: Schon als die Flüchtlingszahlen jährlich bei wenigen Zehntausend gelegen hatten, war vom "vollen Boot" die Rede gewesen. Seitdem die Rechtsaußen-Partei Die Republikaner 1989 in Berlin mit einer extrem ausländerfeindlichen Kampagne und der Titelmelodie des Westerns "Spiel mir das Lied vom Tod" im Wahlspot acht Prozent der Wählerstimmen errungen hatte, wurde das Wort "Asylmissbrauch" zu einem der gängigen Wörter in der deutschen Politik. Allenthalben war von "Überfremdung" und von "Flüchtlingsmassen" die Rede; und die Änderung des Asylgrundrechts wurde vier Jahre lang zum Hauptthema der Politik.

Zugleich nahmen die Gewalttaten gegen Ausländer und Flüchtlinge rapide zu. Sie kulminierten in Rostock-Lichtenhagen: Drei Tage und vier Nächte belagerten Neonazis unter dem Beifall von Anwohnern ein Ausländerheim (im Bild oben das Haus heute), in dem 120 Menschen wohnten. Die Polizei griff nicht ein; sie zog sogar ab, als das Haus in Brand gesteckt wurde. Die Bewohner konnten sich mit Glück retten. Kommunalpolitiker entschuldigten sich nicht bei ihnen, sondern bei den Anwohnern - für Unbill und öffentliche Kritik, die sie hätten ertragen müssen. In der politischen Debatte galten die Ausschreitungen nicht selten als eine Art Notwehrexzess. Sie waren der unmittelbare Anlass für die Änderung des Asylgrundrechts.

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Quelle:
SZ vom 22.08.2017
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