Sozialismus:Rosa Luxemburg - die große Ruhestörerin
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Rezension von Rainer Stephan
Wie oft kann man einen Menschen um sein Leben bringen? 1931 brandmarkte Josef Stalin die zwölf Jahre zuvor, am 15. Januar 1919, von deutschen Soldaten umgebrachte Rosa Luxemburg wegen ihres Konzepts der "permanenten Revolution" als Feindin des einzig wahren, nämlich des sowjetischen Kommunismus. Damit, schreibt der Historiker Ernst Piper in seiner jetzt vorgelegten Biografie, habe Stalin Rosa Luxemburg "zum zweiten Mal ermordet".
Piper meint das wörtlich. Der zweite Mord besteht nicht in der berechtigten Vermutung, dass Rosa Luxemburg den Großen Terror in der Sowjetunion nicht überlebt hätte; er besteht in Stalins Satz. Es kommt auf die Sprache an. Auch die dumpf fanatisierten Soldaten der Berliner Garde-Kavallerie-Schützen-Division, die Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, die Anführer der aus der SPD ausgeschlossenen "Spartakusgruppe" und Gründer der KPD, ermordeten, führten nur aus, was andere gesagt hatten.
Als die im November 1918 gebildete Regierung unter der Führung Friedrich Eberts (SPD) nach dem sogenannten Januar-Aufstand 1919 beschloss, mit Waffengewalt gegen die vermeintlichen Rädelsführer vorzugehen, sagte der Militärbeauftragte Gustav Noske: "Einer muss der Bluthund werden, ich scheue die Verantwortung nicht!" Der Satz hätte in die zu jener Zeit entstehende dramatische Montage von Reden und Zeitungsartikeln gepasst, mit der Karl Kraus vorführte, dass und wie Sprache tötet. Das Stück heißt: "Die letzten Tage der Menschheit".
In Wahrheit dachten die Spartakisten damals nicht an einen Putsch. Rosa Luxemburg, die immer die Ansicht vertreten hatte, eine Revolution könne man nicht "machen", sie passiere einfach, lehnte ihn sogar dezidiert ab. Dennoch hingen wenig später in ganz Berlin rote Plakate, auf denen zu lesen stand: "Arbeiter, Bürger! Das Vaterland ist dem Untergang nahe. Es wird nicht von außen bedroht, sondern von innen. Von der Spartakusgruppe. Schlagt ihre Führer tot!"
47 Jahre alt ist die im polnischen Zamość als Tochter eines begüterten jüdischen Holzhändlers geborene Rosa Luxemburg geworden. Ein Hüftleiden fesselte sie als kleines Mädchen für ein ganzes Jahr ans Bett. Auch darum las und schrieb sie unentwegt, und spätestens mit 13 war ihr klar, wogegen sie fortan vor allem anschreiben würde: gegen die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen.
Zum Studium in die Schweiz? Als Frau? Als Marxistin? Ja.
Natürlich muss so eine Sozialistin werden, und da Sozialisten im vom zaristischen Russland kontrollierten Polen hart verfolgt werden, schloss sie sich bereits als Gymnasiastin einer marxistischen Untergrundorganisation an. Ihr Biograf Piper zeichnet das sorgfältig und - in seltenen Glücksfällen gibt es so etwas - mit objektiver Empathie nach. Mit 17 machte Rosa als Klassenbeste das Abitur; kurz darauf floh sie vor der russischen Geheimpolizei nach Zürich und beginnt dort ihr Studium.
Studium in der Schweiz? Als Frau? Als Marxistin? Ja. Ausgerechnet die Schweiz hatte bereits 1840 Frauen zum Universitätsstudium zugelassen, anders als Deutschland und Österreich, wo das erst mit Beginn des 20. Jahrhunderts geschah. Und: In Schweizer Universitätsstädten, so der ebenfalls dort studierende Chaim Weizmann, der 1949 Israels erster Staatspräsident wurde, trafen sich damals "die revolutionären Kräfte aus ganz Europa".
"Freiheit", lautet Rosa Luxemburgs meistzitierter Satz, "ist immer Freiheit der Andersdenkenden." Piper dokumentiert, dass und wie dieses Prinzip - durchaus anders als im heutigen, am Gängelband von Effizienz- und Exzellenz-Planern hängenden Bildungssystem - damals auch für die Universitäten galt. Rosa Luxemburgs Zürcher Doktorvater Julius Wolf war ein erklärter Gegner des Marxismus; er plädierte, so Ernst Piper, "für eine staatliche Sozialpolitik, um der revolutionären Sozialdemokratie das Wasser abzugraben".
Was passiert, wenn eine glühende Marxistin so jemandem eine Dissertation über die industrielle Entwicklung Polens vorlegt? "Der Arbeit", urteilt Wolf, "ist nachzurühmen volle Beherrschung des Gegenstandes, große Sorgfalt, großer Scharfsinn." Sie "legt Zeugnis ab ebenso von theoretischer Begabung wie von praktischem Blick". Zwar: "Die Verfasserin ist Sozialistin und steht zu der sogenannten materialistischen Geschichtsauffassung." Aber: "Das tut der Tüchtigkeit der Leistung keinen Abbruch, welche weit darüber hinausgeht, was von einer Dissertation gefordert werden muss."
Schreiben und schreibend denken lässt sich, möglicherweise, lernen. Verlernen lässt es sich nicht. Rosa Luxemburg hat eine schier unüberschaubare Menge von Büchern, Aufsätzen, Zeitungsartikeln und Briefen verfasst.
Es ist mehr als bewundernswert, wie viele dieser Texte Piper in seiner Biografie nicht nur zitiert, sondern auch erläutert und in ihren jeweiligen Kontext einordnet: Weiterentwicklungen der marxistischen Theorie, Auseinandersetzungen mit rivalisierenden Parteien und Funktionären, aber auch anrührend heftige Liebeserklärungen an ihren Jugendfreund und Kampfgenossen Leo Jogiches (aus dessen privat wie politisch ziemlich kontrollsüchtiger Verfügungsgewalt sie sich nur unter großen Mühen befreite), an den heiß geliebten, 15 Jahre jüngeren Kostja Zetkin, den Sohn ihrer Freundin Clara Zetkin, oder an Paul Levi, der sie in vielen Strafverfahren verteidigte und zugleich die letzte große Liebe ihres Lebens war. Und auch wenn selbstverständlich nicht allen Texten die gleiche Bedeutung zukommt, so bestätigen doch so gut wie alle das zitierte Urteil ihres Doktorvaters.
Der Öffentlichkeit ist Rosa Luxemburg in erster Linie durch ihre Reden bekannt, ja zur Berühmtheit geworden. Sie hatte, staunte sogar das bürgerlich-liberale Hamburger Abendblatt, "etwas Faszinierendes in ihrem Wesen, sie verfügt über eine zündende Beredsamkeit, sie versteht es, für jede ihrer Ausführungen selbst dem nicht sozialistischen Zuhörer das regste Interesse einzuflößen, und gerade gestern wurde es dem rein objektiven Zuhörer klar, dass es einer Frau wie ihr gelingen muss, die Arbeitermassen mit sich fortzureißen".
Kritischer Geist in den Reihen der SPD
Kein Wunder also, dass die SPD als damals mit Abstand größte sozialistische Partei Europas Rosa Luxemburg sofort für sich einspannte, nachdem diese - nicht zuletzt wegen der SPD - durch eine Scheinehe die preußische Staatsbürgerschaft erworben hatte und nach Berlin umgezogen war.
Die beiden großen Männer der Partei, der Vorsitzende August Bebel und der Cheftheoretiker Karl Kautsky hielten zwar, jedenfalls bis zur endgültigen Selbstdemontage der SPD 1914, stets loyal zu ihr, auch wenn sie sich oft kompromissbereiter als ihre scharfzüngige Freundin gaben. Doch schnell bekam die mit ihren zunehmenden Wahlerfolgen immer behäbiger und bürokratischer gewordene SPD (Piper redet bündig und, schlimmer, bis heute kaum widerlegbar von "bürokratischer Sklerose") zu spüren, welch kritischen Geist sie da in ihre Reihen aufgenommen hatte.
Ausführlich verfolgt Piper, wie sich Rosa Luxemburgs Grundpositionen bereits in ihrer polnischen Untergrundarbeit bildeten und sich dann weiterentwickelten - in ständiger Auseinandersetzung mit selbstgenügsamen, um ihre bürgerliche Anerkennung wie um ihre Privilegien als Abgeordnete oder Inhaber von Parteiämtern besorgten SPD-Funktionären auf der einen und mit doktrinären Bolschewisten auf der anderen Seite.
Diese Grundpositionen waren Verstaatlichung von Produktionsmitteln, Bildung von Genossenschaften, Trennung von Kirche und Staat, kostenlose Schulbildung. Wobei sie unter Bildung immer humanistische Bildung verstand; die "Internationale" sang sie so gerne wie Arien aus Mozarts "Figaro" oder die Lieder des Romantikers Hugo Wolf, und weil sie das alles schön durcheinander und laut und sogar nachts auf der Straße sang, blieb sie auch dabei, was sie immer war: Eine große Ruhestörerin.
Dennoch: Wo sie ihre Zeitgenossen nervte, geschah das nahezu in aller Unschuld. Sie war das Gegenteil einer Krampfhenne, sie glühte nur für ihre Ziele, und sie glaubte zu wissen, wie sie durchzusetzen waren: durch Demonstrationen, Steuerverweigerungen und Streiks. Vor allem die Überzeugung vom spontanen Massenstreik als wirksamstem politischen Instrument brachte sie immer heftiger in Konflikt mit etablierten Sozialdemokraten und um ihre Kontrolle fürchtende Gewerkschaftler. Individuellen Terror dagegen lehnte sie bis zuletzt vehement ab.
Als Vaterlandsverräterin für vogelfrei erklärt
Rosa Luxemburg glaubte, und das war zu ihrer Zeit noch nicht verkehrt, an das Proletariat als Subjekt der Geschichte. Dass das Proletariat als internationale Interessengemeinschaft agieren müsse, erschien ihr selbstverständlich. Und so kämpfte sie, prononcierter als auch die meisten Sozialisten ihrer Zeit, gegen jeden Nationalismus - gleich ob der als Tarnung unternehmerischer Interessen erschien oder, in seiner aggressiven Form, als Ventil unzufriedener Zeitgenossen, die nicht imstande waren, sich über die wahren Ursachen ihrer Unzufriedenheit aufzuklären.
Mit der patriotisch motivierten (oder nur maskierten) Bewilligung der Kriegskredite 1914 hat die SPD Rosa Luxemburgs Urteil über den Nationalismus auf eine Art bestätigt, die sie selbst nicht für möglich gehalten hätte. Sie dachte damals an Selbstmord, hat dann aber weiter und erbitterter denn je gegen den Nationalismuswahn gekämpft - eine Haltung, die es leicht machte, sie während des Kriegs für drei Jahre einzusperren und sie am Ende als Vaterlandsverräterin oder, wahlweise, als jüdische Agentin für vogelfrei zu erklären.
War Rosa Luxemburgs politisches Programm schon zu ihrer Zeit illusorisch, wie viele, auch viele Sozialdemokraten, behaupten? Piper sieht das anhand ihrer Auseinandersetzung mit Lenin differenzierter: "Rosa Luxemburg ist der lebendige Beweis dafür, dass ein Marxismus jenseits des Leninismus möglich ist. Wo Lenin Kontrolle verlangte, wollte sie Spontaneität, ohne dass deswegen ihre Erwiderung ein Plädoyer für Desorganisation war."
Erst recht zu leicht macht es sich, wer Rosa Luxemburg als leidenschaftliche Kämpferin, scharfäugige Kassandra und/oder hochsensible Idealistin preist, aber ihre Dauerauseinandersetzung mit der SPD für historisch nicht mehr relevant erklärt. An den historischen Kontext gebunden sind lediglich die Themen, keineswegs aber die Struktur dieser Auseinandersetzung. Die war schon damals geprägt von der panischen Angst der SPD, man könne sie für sozialistisch halten. Dass heute kein industrielles Proletariat mehr existiert, dass der globale Finanzkapitalismus sich nicht mit Massenstreiks bändigen lässt, ist sicher richtig.
Aber ist die SPD deswegen heute weniger kleinmütig, als sie es 1914 war? Ist sie heute eine linke Partei, eine, die entschieden auf der Seite derer agiert, die von diesem Kapitalismus bedroht sind?
Man kann Rosa Luxemburgs Biografie, wie Piper sie exzellent erzählt und dokumentiert, auch als ein entscheidendes Stück Geschichte der SPD lesen. Warum sie keine Volkspartei mehr ist, warum sie sich mittlerweile dagegen wehren muss, in die Bedeutungslosigkeit abzusinken: Rosa Luxemburg, die nie aus der SPD austreten wollte, hätte es womöglich erklären können.