Sie ist und bleibt die berühmteste aller deutschen Revolutionäre und Revolutionärinnen. Doch als der Umsturz, den sie so ersehnt und mit aller Macht des Wortes beschworen hatte, endlich kam, da fehlte Rosa Luxemburg.
Sie kam, aus dem Zuchthaus befreit, am 10. November 1918 einen Tag zu spät nach Berlin und musste erkennen: Das war nicht ihre Revolution. Nicht die des klassenbewussten Proletariats, sondern in erster Linie die von kriegsmüden Soldaten und Matrosen, die genug hatten vom großen Morden, von Generälen, vom kaiserlichen Unterdrückungsstaat. Die Linksradikalen, auch ihre großen, als Kriegsgegner geachteten Leitfiguren Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht standen zur eigenen Überraschung eher am Rande des Geschehens, ihre "Massenbasis" war gering. Politisch dominierten die Sozialdemokraten, die dann bald, aus obsessiver Furcht vor dem Bolschewismus, mit den alten Mächten wie dem Militär paktierten. Und rechtsextremistische Soldaten waren es, die am 15. Januar 1919 Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg misshandelten und ermordeten.
Was bleibt nun, 100 Jahre nach ihrem entsetzlichen Tod, von Rosa Luxemburg, der scharfsinnigen Utopistin des Sozialismus, der Kämpferin gegen Krieg und Klassengesellschaft, der Märtyrerin der Revolution? Bücher, Symposien, Vorträge erinnern an sie. Waren es einst schwärmerische 68er, die ihr Andenken pflegten, so gilt Rosa Luxemburg, deren Werk in der Bundesrepublik lange verdrängt und verkannt wurde, inzwischen fast schon als eine Ikone der deutschen Demokratiebewegung.
Man kann es Linken nicht verdenken, dass sie jährlich am Todestag an der Gedenkstätte Friedrichsfelde rote Nelken für Ihre Heldin, für Liebknecht und andere Sozialisten niederlegen. Dem einen oder der anderen würde es dabei allerdings gut anstehen, sich zu erinnern, dass der "Luxemburgismus" unter orthodoxen Kommunisten jahrzehntelang als Todsünde galt, wie sie auch in dieser weltlichen Heilslehre in die Nacht ewiger Verdammnis führte. So salopp wie treffend schreibt der Berliner Historiker Ernst Piper in seiner wunderbaren neuen Biografie Rosa Luxemburgs: "Für Rosas rote Demokratie war in der DDR kein Platz."
Bei der Gründung der KPD Ende 1918 ermahnte sie ihre kopflos nach Aktion drängenden Genossen: "Ihr macht euch euren Radikalismus ein bisschen bequem." Ähnliches ließe sich heute für viele Versuche sagen, Rosa Luxemburg als politische Kronzeugin heranzuziehen. Sicher, der globale Kapitalismus und seine Auswüchse hätten die Flammen ihres Zorns hervorgerufen. Und vielleicht hat auch die kluge Autorin Elke Schmitter recht, die im Spiegel schreibt: "Das heutige Beharren auf Benachteiligung, ob wegen Geburt oder Geschlecht, Status oder Religion, hätte sie nur gelangweilt."
Als Marxistin wäre Rosa Luxemburg wohl überzeugt, dass sich derlei Sorgen ohnehin erledigen würden, wenn die Hauptsache, die Überwindung des Kapitalismus durch "das revolutionäre, siegreiche Proletariat" gelungen sei. Sie war ein Kind ihrer Zeit und dachte in deren Kategorien, die glücklicherweise nicht mehr die heutigen sind. "Rosas rote Demokratie" - das jedoch umschreibt den Kern ihres Denkens und ihr Vermächtnis. Manche lesen ihre berührenden "Briefe aus dem Gefängnis", wenige kennen noch ihre Theorieschriften, sehr viele aber ihren berühmtesten Satz: "Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden."
Er gehört fest zur deutschen Demokratiegeschichte, wurde und wird aber auch oft missverstanden. Zunächst und vor allem galt er der revolutionären Bewegung, nicht dem Klassenfeind. Rosa Luxemburg war keine Demokratin im Sinne des Grundgesetzes. Sie verfasste Wuttiraden gegen die Nationalversammlung, den Parlamentarismus, gegen das Prinzip der Mehrheitsbeschlüsse. Sie wollte Revolution - und zwar keine friedliche mit Lichterketten; sie hielt Gewalt für legitim, wenn sie dem Ziel der neuen Gesellschaft dienlich war. Das ändert aber nichts daran, wie viel Wahrheit in diesem Satz liegt, wie viel fast prophetische Einsicht und Warnung - vor dem Geist der Unfreiheit nämlich.
Sie schrieb ihn im Herbst 1918 noch in der Gefängniszelle, als Reaktion auf den roten Terror, mit dem Russlands Revolutionsführer Lenin das Land und auch eigene Genossen überziehen ließ. Eine Massenbewegung ohne Mitbestimmung der Massen - das musste die sozialistische Utopie zerstören, und so ist es ja auch gekommen. Lenin und nach ihm Stalin haben Rosa Luxemburg für solche Widerrede noch posthum gefürchtet und verteufelt, weil sie so präzise den Verrat vorausahnte, den ein von tyrannischen Kadern geführter, mordender Staatssozialismus an den eigenen Idealen begehen würde. Nicht vorstellbar, dass Rosa Luxemburg, hätte sie länger gelebt, diesen Verrat toleriert hätte.
"Ich war, ich bin, ich werde sein!"
Sie hätte die Demokratie unserer Tage zwar als Fassade eines entfesselten Kapitalismus abgelehnt. Aber ihr Satz von der Freiheit des Andersdenkenden bleibt hoch aktuell, er gilt weit über den Zusammenhang hinaus, in dem er entstand; er gilt immer dann, wenn es darum geht, wie man Freiheit definiert.
Von linksradikalen Utopien ist wenig übrig. Der Rechtspopulismus aber stürmt heran und täuscht gar vor, er wolle überhaupt erst wahre Freiheit schaffen. Die Demokratie wirkt angesichts dieser Herausforderung oftmals unnötig verzagt, dabei ist die Freiheit doch die größte Stärke der offenen Gesellschaft. Viele nehmen diese Freiheit als selbstverständlich, doch das ist sie nicht. Sie muss stets bekräftigt, mit Leben erfüllt und verteidigt werden. Dazu gehört, sie auch ihren Gegnern zu gewähren, solange diese nicht Gesetze und Verfassung brechen.
In ihrem letzten Text schrieb Rosa Luxemburg: "Ich war, ich bin, ich werde sein!" Sie meinte nicht sich, sondern die Revolution. Die Revolution ist lange dahin. Die Erinnerung an Rosa Luxemburg bleibt.