Es ist wieder Bangen angesagt. Sorgen um Familie und Freunde im Norden Syriens. Khabat Abbas kennt das, die 36-Jährige stammt selbst aus der Region, in der ein Großteil der kurdischen Bevölkerungsgruppe lebt. „Ich habe Angst vor dem, was kommt“, sagt sie im Telefonat mit der Süddeutschen Zeitung.
Früher hat die syrische Journalistin vor Ort über die Ereignisse berichtet, dann kam sie 2021 für ein Stipendium nach Deutschland. Aber immer noch reist Abbas in ihre alte Heimat – und schreibt darüber, wie es den Kurden ergeht, die „um ihre Heimat und ihr Überleben fürchten“. Die Angst, sie gilt den Angriffen der Türkei. „Wenn die Türkei so weitermacht, werden wir bald Tote und Verletzte in den kurdischen Gebieten erleben. Schon jetzt stehen wir dort vor einer humanitären Katastrophe.“
Während in Damaskus seit dem Sturz des Diktators Baschar al-Assad vor zwei Wochen die Waffen schweigen, spitzt sich die Lage im syrischen Nordosten immer weiter zu. Der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdoğan hat seine Militärpräsenz entlang der türkisch-syrischen Grenze verstärkt. Er will seine Soldaten so lange dort stationieren, bis die kurdischen Kämpfer im Norden besiegt sind.
„Die Frauenrechte werden sicher stark eingeschränkt“, glaubt Abbas
Nicht nur die Kurden, auch andere Minderheiten in Syrien fürchten nach dem Ende der Assad-Diktatur Repressionen durch das islamistische Milizen-Bündnis Hayat Tahrir al-Scham (HTS), das de facto die Macht übernommen hat. Dessen Anführer Ahmed al-Sharaa gibt sich zurzeit zwar moderat und erklärt, die Minderheiten im Land hätten nichts zu befürchten, denn das erklärte Ziel sei ein geeintes Syrien für alle.
Doch Khabat Abbas nimmt Sharaa die Verwandlung vom Islamisten zum fortschrittlichen Politiker nicht ab. Obwohl sie den Sturz des alten Regimes begrüßt, „weil nach fünf Jahren Stillstand endlich etwas passiert“, blickt die syrische Journalistin misstrauisch in die Zukunft. Schon jetzt kursieren Aufnahmen von Übergriffen durch HTS-Anhänger auf Minderheiten. Und „die Frauenrechte werden sicher stark eingeschränkt“, glaubt Abbas.
Wer kann in dieser Lage helfen? Deutschland scheint nach seiner Rolle im neuen syrischen Machtgefüge noch zu suchen. Die Diplomaten hatten sich 2012 aus Syrien zurückgezogen, die Botschaft wurde geschlossen, der Gesprächsfaden zum Machtapparat riss ab. Der deutsche Einfluss ist also gering. Um das zu ändern, reiste der Nahostbeauftragte des Auswärtigen Amtes, Tobias Tunkel, vor wenigen Tagen nach Damaskus. Dort traf er Sharaa und andere Vertreter der neuen Machthaber.
Baerbock erinnert an "gemeinsame Sicherheitsinteressen“
Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) reiste dagegen am Freitag nach Ankara, für Gespräche mit dem türkischen Geheimdienst und ihrem Amtskollegen Hakan Fidan. Anders als Deutschland ist die Türkei in Syrien ein aktiver Akteur mit Einfluss auf die neuen Machthaber und direkten Kontakten zu ihnen. Für das neue Syrien ist die Zusammenarbeit mit der Türkei unerlässlich. Kann die deutsche Politik über diese Verbindung ihren Austausch mit Syrien vertiefen?
Einen Versuch ist es wert. Auch deshalb ist die deutsche Außenministerin in Ankara. Zugleich warnt sie in ihrer dortigen Presseerklärung die türkische Regierung vor weiteren Angriffen auf syrischen Kurden. „Die Sicherheit gerade auch für Kurdinnen und Kurden ist essenziell für eine freie und sicher Zukunft Syriens“, sagt Baerbock nach ihrem Treffen mit dem türkischen Außenminister. „Auch deshalb habe ich heute sehr, sehr deutlich gemacht, dass unsere gemeinsamen Sicherheitsinteressen nicht durch eine Eskalation mit den Kurden in Syrien gefährdet werden dürfen“, betont sie noch.
Wie die Türkei fordert allerdings auch sie, dass die kurdischen Rebellen in Nordsyrien ihre Waffen niederlegen und in die syrische Sicherheitsarchitektur eingegliedert werden. Das türkische Außenministerium teilt nach dem Treffen mit, dass die Verbände der kurdischen Miliz YPG die Waffen niederlegen und sich auflösen müssten.
Die Syrer in Deutschland seien „Botschafter der deutschen Idee“, sagt Nahost-Experte Naeem
Welche Rolle kann Deutschland über solche ersten Verlautbarungen hinaus einnehmen? Der Verfassungsrechtler, Syrien-Kenner und Nahostexperte Naseef Naeem sagt, es komme ganz darauf an, wie sich die deutsche Politik einbringt. „Es ist wichtig, dass man sich erst mal für Sicherheit, Ordnung und institutionelle Stabilität in Syrien einsetzt, ohne Themen, die in der Region als problematisch gelten, wie etwa der Einfluss der Religionen auf die Rechtsordnung, in dieser Phase kontrovers zu diskutieren.“
Nicht zu vergessen, die halbe Million Syrerinnen und Syrer, die in Deutschland leben. „Sie sind Botschafter der deutschen Idee. Sie haben erlebt, wie ein demokratischer Staat aussieht. Wie Freiheit aussieht“, sagt Naeem. Aber zunächst müsse sich Deutschland darüber klar werden, ob es die neue Regierung in Syrien unterstützen will. Hierbei steht die Bundesregierung vor einem Dilemma. Die von Sharaa angeführte HTS steht auf der Terrorliste, Syrien ist mit Wirtschaftssanktionen belegt. Deutschland muss sich einerseits davor hüten, die neuen Machthaber vorschnell politisch zu legitimieren. Und andererseits überlegen, wie es Syrien humanitär oder beim technischen Wiederaufbau unterstützen will.
Naseef Naeem stammt selbst aus Syrien. Er geht davon aus, dass Ankara eng mit der HTS verbunden ist und Anweisungen gibt, wie sich die islamistische Organisation zu verhalten habe. „Die Türken sind die Architekten für alles, was jetzt kommt“, sagt Naeem. Er hat die Sitzungen des „Rats der syrischen Charta“ geleitet, einer vor sieben Jahren gegründeten Initiative, der sowohl Syrer aus der Diaspora angehören als auch Persönlichkeiten aus den vom Assad-Regime kontrollierten Gebieten. 2018 habe der Rat einen Elf-Punkte-Plan verabschiedet, eine Art „Gesellschaftsvertrag für alle Syrer“, sagt Naeem. Das Auswärtige Amt unterstützt den Rat über den Nahost-Thinktank Candid Foundation mit Sitz in Berlin.

Das Politische Buch:Die wichtigsten Bücher des Jahres
Die Top 20 der Redaktion „Das Politische Buch“ zeigen, welche Analysen zum Multikrisenjahr 2024 aus der Masse hervorstachen. Und was man daraus für 2025 lernen kann.
Solche Kontakte zur syrischen Exil-Opposition und zu Menschen in Syrien selbst könnten der deutschen Diplomatie nun helfen. Auch der von Annalena Baerbock vorgestellte Acht-Punkte-Plan zur Unterstützung einer demokratischen Entwicklung des Landes sieht vor, einen Dialog aufzubauen. Er sei „ein Angebot an die Syrerinnen und Syrer auf dem Weg, dass aus Hoffnung Realität wird, zu unterstützen“, sagt Baerbock in Ankara.
Doch die Gespräche in der türkischen Hauptstadt sind überschattet von der Situation an der türkisch-syrischen Grenze. Dort, wo die Türkei ihre Militärpräsenz verstärkt und die Kurden Angriffe fürchten. „Das ist unsere große Sorge“, sagt Naeem, der an dieser Stelle eine mögliche Schlüsselrolle Deutschlands sieht: als Verhandlungspartner zwischen den syrischen Kurden und der Türkei. „Das könnte dem Land zumindest eine Atempause verschaffen.“