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Rolle des US Supreme Courts:Kulturkampf um "God, guns and gays"

Zerfallene Staaten von Amerika: Konservative und liberale Überzeugungen spalten das Volk, die Politik - und den Obersten Gerichtshof. Die wichtigsten Juristen des Landes könnten vermitteln, doch sie machen mit ihren Urteilen pure Politik.

Von Hubert Wetzel

So ist das jedes Jahr. Der US Supreme Court wartet mit seinen wichtigsten Urteilen bis ganz zum Schluss der Sitzungszeit, dann wirft er sie dem Volk vor die Füße - und fährt in die Ferien.

So war es auch dieses Jahr. Vorige Woche veröffentlichte der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten binnen zwei Tagen vier Urteile, die enorme Folgen für Millionen Amerikaner haben werden. Danach packten die Richter ihre Koffer. DerWashington Post zufolge ist in diesem Jahr Europa als Reiseziel sehr beliebt. Der Vorsitzende des Gerichtshofs zum Beispiel, Chief Justice John Roberts, verbringt etliche Wochen in Prag. Seine Kollegen weilen in Innsbruck, Salzburg, Florenz und Paris.

Zwei der in Amerika zurückgelassenen Urteile waren besonders spektakulär. Im Fall Shelby County v. Holder verwarf das Verfassungsgericht mit fünf zu vier Stimmen einen der wichtigsten Paragrafen des Voting Rights Act, ein hart erkämpftes Gesetz von 1965, das den Schwarzen im amerikanischen Süden das volle Wahlrecht garantiert. Die Folge ist, dass die US-Regierung künftig nicht mehr darüber wachen darf, dass Minderheiten bei Wahlen in einzelnen Bundesstaaten nicht diskriminiert werden.

Nur auf den ersten Blick passen die Urteile nicht zusammen

Im Fall United States v. Windsor erklärte das Gericht, ebenfalls mit fünf zu vier Stimmen, den Defense of Marriage Act für nichtig. Dieses Gesetz von 1996 definierte "Ehe'' für verwaltungsrechtliche Zwecke als Gemeinschaft von Mann und Frau. Es verwehrte damit gleichgeschlechtlichen Paaren Steuerprivilegien, die heterosexuellen Ehepaaren zustehen. Nach dem Urteil müssen alle US-Bundesbehörden nun homosexuelle Paare, die rechtmäßig verheiratet sind - derzeit ist das in etwa einem Dutzend Bundesstaaten möglich -, künftig wie heterosexuelle Paare behandeln.

Auf den ersten Blick passen die beiden Urteile nicht zusammen. An einem Tag kastrierte der Supreme Court eines der wichtigsten Bürgerrechtsgesetze der Vereinigten Staaten - ein historischer Sieg für Amerikas Konservative. Doch nur 24 Stunden später jubelte das linksliberale Amerika über die Gleichstellung von homo- und heterosexuellen Ehepaaren. Dasselbe Gericht, das per Federstrich die Rechte der schwarzen Minderheit massiv beschnitten hatte, erweiterte im Gegenzug die Rechte der homosexuellen Minderheit erheblich. So jedenfalls erschien es.

Auf den zweiten Blick ist das Hin und Her weniger erstaunlich. Der Unterschied zwischen den Urteilen besteht im Votum eines einzelnen Mannes: des Richters Anthony Kennedy. Er schlug sich im Wahlrechtsfall auf die Seite der vier konservativen Richter am Supreme Court (John Roberts, Clarence Thomas, Antonin Scalia sowie Samuel Alito). Im Fall der Homo-Ehe stimmte der 77-Jährige dann mit den vier liberalen Richtern (Ruth Bader Ginsburg, Stephen Breyer, Sonia Sotomayor und Elena Kagan). In Amerika wird seitdem darüber spekuliert, welcher Rechtsphilosophie ein Richter anhängen muss, um zwei so unterschiedliche Urteile fällen zu können.

Am weitesten kommt man wohl mit der Interpretation, dass Kennedy es schlicht nicht mag, wenn ein Gesetz bestimmte Gruppen von Bürgern, die nichts verbrochen haben, anders behandelt als den großen Rest. Der Grund der Ungleichbehandlung ist für ihn zweitrangig; ebenso, ob die Ungleichbehandlung einer Person nützt oder schadet. Wenn der Staat Homosexuelle benachteiligt, nur weil sie homosexuell sind, verletzt das in Kennedys Augen genauso die Verfassung, wie wenn der Staat schwarze Wähler besonders vor Diskriminierung schützt, nur weil sie schwarz sind. Man muss Kennedy nicht zustimmen, kann ihm eine gewisse juristische Geradlinigkeit aber nicht absprechen. Das fällt bei den acht übrigen Richtern schwerer.

Am Ende landen sie doch wieder im jeweiligen Politik-Lager

Natürlich waren auch sie nicht um juristische Begründungen für ihre Voten verlegen. Am Ende landeten sie freilich doch einfach wieder in dem politischen Lager, in dem sie fast immer landen. Es war insofern nicht "das Gericht'', das die Urteile fällte. Sondern es standen sich bei beiden Urteilen wieder einmal die beiden altbekannten Vierergruppen gegenüber: Die vier liberalen Richter wollten den Minderheiten helfen. Sie stimmten für den Erhalt des Voting Rights Act und gegen das Ehegesetz.

Die vier Konservativen wollten dagegen dem Getue um Schwarze und Schwule ein Ende machen. Sie stimmten gegen das Wahlgesetz und für die traditionelle Ehe. Es war Kennedy, der als Mehrheitsbeschaffer hin- und herpendelte.

Und damit ist man beim Kern der Urteile: Amerikas Oberstes Gericht tut gern so, als stünde es, allein der Verfassung verpflichtet, hoch über dem politischen Alltagsgezänk. Aber das ist ein Trugbild. Die neun Richter sind Juristen. Doch sie machen mit ihren Urteilen pure Politik.

Roberts' Urteilsbegründungen im Wahlrechtsfall war in dieser Hinsicht eindeutig: Sein Argument gegen den Voting Rights Act - immerhin ein Gesetz, das der Kongress erst 2006 für weitere 25 Jahre bestätigt hatte - war, dass es keinen staatlich organisierten Rassismus im Süden mehr gebe. "Die Dinge haben sich dramatisch verändert'', so sein Kernsatz - eine politische Feststellung, wohl kaum eine juristische Analyse.

Im Fall der Homo-Ehe zogen sich Roberts und seine konservativen Kollegen, die tags zuvor dem Parlament noch so beherzt ins Steuer gegriffen hatten, dann wieder auf ihr Lieblingsargument zurück: Das Gericht solle nicht Gesetzgeber spielen und dem Kongress nicht dreinpfuschen.

Für Amerika ist das keine glückliche Konstellation. Das Volk ist politisch zerrissen, ebenso die Politik selbst. Im "roten'' Amerika, in den konservativen, republikanisch wählenden Bundesstaaten, gibt es Bemühungen, viele liberale Fortschritte der vergangenen Jahrzehnte zurückzudrehen. Da werden Abtreibungsgesetze ver- und Waffengesetze entschärft, drakonische Maßnahmen gegen illegale Einwanderer ergriffen und Wahlvorschriften so verändert, dass ganz zufällig jene Bürger vom Wählengehen abgeschreckt werden könnten, die vermutlich für die Demokraten stimmen würden.

Die liberalen, demokratischen Staaten, das "blaue'' Amerika, marschieren ähnlich entschlossen in die andere Richtung. Sie schränken den Waffenbesitz ein, legalisieren die Homo-Ehe und den Verkauf von Cannabis. Amerika zerfällt.

Die Politik ist längst zum Transmissionsriemen dieses Zerfalls geworden. Es gibt - abgesehen vielleicht von Armee und Feuerwehr - praktisch keine staatliche Körperschaft mehr, die das Vertrauen der Bürger genießt.

Das Abgeordnetenhaus ist schon lange zum Kampfplatz betonköpfiger Ideologen verkommen, seit einigen Jahren wird auch der Senat mehr und mehr dazu. Wer zur gegnerischen Fraktion auch nur rüberzwinkert, gilt als Verräter. Republikaner und Demokraten sind wie zwei Ringer, die, einander fest umklammernd, von einer Klippe stürzen. Unten sind beide tot, aber Hauptsache keiner hat losgelassen.

Aus dem "blanken Willen, festgefügtes Recht zu verändern''

Und nun der Supreme Court. Das Gericht könnte sich gegen den Zerfall stemmen. Doch seit Roberts 2005 den Vorsitz übernommen und den konservativen Flügel gestärkt hat, ist es zu einem treuen Verbündeten der Rechten geworden. Wie politisch das Gericht inzwischen ist, zeigen einige Zahlen: Während es im Jahr 2005 nur elf Fünf-zu-vier-Entscheidungen gab, waren es in der abgelaufenen Sitzungszeit 24. Das waren knapp 30 Prozent aller Urteile.

Bei 70 Prozent dieser Urteile standen sich jeweils die beiden ideologisch geprägten Viergruppen gegenüber. Und in 63 Prozent dieser Fälle gewann die konservative Seite. Daran ändert auch nichts, dass es just Roberts war, der voriges Jahr mit seinem Votum die bei den Republikanern so verhasste Gesundheitsreform von Präsident Barack Obama rettete: Der Wutschrei der Rechten damals war ein Wutschrei über einen Abtrünnigen, auf den man sich bis dahin verlassen konnte.

Der Rechtsdrall des Gerichts wäre verkraftbar, wenn es sich nicht zunehmend - und zunehmend parteiisch - genau die politischen Fragen einmischen würde, die das Land so tief spalten. Die Klage gegen den Voting Rights Act zum Beispiel hätte der Supreme Court nicht annehmen müssen. Chief Justice Roberts tat es trotzdem. Und zwar, wie die Gerichtskorrespondentin der New York Times fast ungläubig feststellte, aus dem "blanken Willen, festgefügtes Recht zu verändern''. Niemand kümmert sich sonderlich um die zig wirtschaftspolitischen Grundsatzurteile, die das Gericht - meist zugunsten von Unternehmen - gefällt hat. Doch wenn der Supreme Court als Partei im amerikanischen Kulturkampf um "God, guns and gays" auftritt, dann wird es heikel.

Das Waffenrecht haben Roberts und seine Mitstreiter bereits erheblich gelockert. Bei der Homo-Ehe unterlagen sie knapp. Die nächste große Schlacht wird das Recht auf Abtreibung sein. 1973 hatte der Supreme Court dieses Recht in seinem Urteil im Fall Roe v. Wade festgeschrieben. Ob er es heute bestätigen würde, ist fraglich.

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SZ vom 06.07.2013/sks
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