EU in der Weltordnung der Zukunft:In Europas Abstieg liegt die Chance

Mehr Effizienz, weniger Besserwisserei fordert der Politologe Eberhard Sandschneider: Denn Europa muss begreifen, dass es bald an Einfluss verlieren wird. Debatten über europäische Identität oder eine Verfassung seien unnötig. Es komme darauf an, Probleme zu lösen und alte Denkmuster etwa bei der Menschenrechtspolitik in Frage zu stellen. Viel abschauen könnten sich die Europäer von China.

Matthias Kolb

Eberhard Sandschneider, Jahrgang 1955, ist Otto-Wolff-Direktor des Forschungsinstitutes der "Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik" (DGAP) und Inhaber des Lehrstuhls für Politik Chinas und Internationale Beziehungen an der Freien Universität Berlin. In seinem aktuellen Buch beschäftigt er sich mit dem "erfolgreichen Abstieg Europas".

EU in der Weltordnung der Zukunft: Eine Fußgängerin geht in Hongkong an einem Werbeplakat vorbei.

Eine Fußgängerin geht in Hongkong an einem Werbeplakat vorbei.

(Foto: AFP)

sueddeutsche.de: Herr Sandschneider, Sie finden deutliche Worte für die Lage Europas: Wir seien der "Schulmeister der Welt" und "eine Großmacht der Schwarzmalerei". Der Abstieg der EU sei unvermeidbar. Ist die Situation wirklich so schlimm?

Eberhard Sandschneider: Die spannende Frage ist, ob man das als schlimm bewertet. Die Tatsache, dass sich machtpolitische Gewichte verschieben, ist an sich nichts Schlimmes. In der Geschichte hat es diese Auf- und Abstiege immer gegeben. Schlimm wird eine Lage nur dann, wenn beim Abstieg Fehler passieren. Beim Bergsteigen geschehen achtzig Prozent der Unfälle auf dem Weg nach unten.

sueddeutsche.de: Europa hat sein Schicksal also noch in der Hand?

Sandschneider: Ich bestehe darauf, ein optimistisches Buch geschrieben zu haben. Auch in diesen turbulenten Tagen dürfen wir nie vergessen, was Europa erreicht hat: Seit mehr als sechs Jahrzehnten leben wir in Frieden. Sicher, in Südeuropa hängt die Demokratie momentan ein wenig am seidenen Faden, aber dass sie vorher erreicht wurde, ist eine große Leistung. Aber dass es den Europäern viel besser als der überwiegenden Masse der Menschen auf diesem Planeten geht, sollte man immer mitdenken.

sueddeutsche.de: Sie stützen sich in Ihrer Argumentation auch auf Zahlen. 1900 lebten 21 Prozent der Weltbevölkerung in Europa, 2050 werden es laut UN 5,6 Prozent sein und im Jahr 2100 nur noch vier Prozent. Aber in der internationalen Politik geht es doch nicht nur um Demographie.

Sandschneider: Natürlich nicht. Die Idee zum Buch kam mir im Dezember 2009, nachdem ich einen Artikel gelesen hatte, der das erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts als "A decade from hell" bilanzierte. Und dies war korrekt: Alles, vom Platzen der Dotcom-Blase über 9/11 bis hin zur globalen Finanzkrise, war höllisch. Vieles, woran wir 20 Jahre vorher geglaubt hatten, war vom Tisch gefegt. Der Westen hatte ein Imageproblem und musste zwei verlorene Kriege verkraften ...

sueddeutsche.de: ... seitdem hat sich die Lage nicht gerade verbessert.

Sandschneider: Das stimmt leider. Es hat in den USA als Finanzkrise begonnen, doch nun erleben wir die zweite Welle vor allem in Europa. Dazwischen gab es eine weltweite Rezession. In Griechenland oder Spanien sehen wir die Ansätze einer sozialen Krise. Aber irgendwann kommt die vierte Welle: die mentale Krise. Wir werden feststellen, dass vieles, was wir für unumstößlich hielten, verschwunden ist und uns fragen: Wie steht es um die Stellung Europas in der Welt?

sueddeutsche.de: Sie beschäftigen sich viel mit China und Ostasien. Wie wird Europa dort gesehen?

Sandschneider: Ganz anders als wir uns selbst wahrnehmen. Es gibt Anerkennung und mitunter Neid auf die wirtschaftlichen Erfolge und das Sozialsystem. Aber niemand wartet dort darauf, dass Europa seine Hausaufgaben macht. Die europäische Integration interessiert dort nicht und in den Überlegungen zur künftigen Weltordnung spielt Europa bei vielen Mitgliedern der politischen Elite keine Rolle mehr. Während wir dazu neigen, die EU seit ihrer Gründung in der Krise zu sehen, ist die Stimmung in Ostasien, Brasilien, Indien oder Südafrika optimistischer. Stück für Stück geht es den Menschen besser. Es ist paradox: Uns geht es so gut wie noch nie, doch wir sind schlecht gelaunt. Woanders herrscht Optimismus, obwohl die wirtschaftliche Lage längst nicht so gut ist.

sueddeutsche.de: Macht sich diese veränderte Stimmungslage schon jetzt bemerkbar?

Sandschneider: In den letzten Wochen gab es einige aufschlussreiche Aussagen: Die chinesische Vizeaußenministerin hat die Europäer aufgefordert, wieder "lernen zu lernen". Russlands Ministerpräsident Wladimir Putin hat die US-Volkswirtschaft in Peking als "Parasit" bezeichnet, und Chinas Ministerpräsident hat im September die mögliche Unterstützung von EU-Schuldenländern an klare Konditionen gebunden. Kurzum: Es gibt klare Signale, dass sich die machtpolitischen Gewichte zuungunsten Europas verschieben. Die spannende Frage wird sein, wie Europa reagiert.

sueddeutsche.de: Sie verwenden im Buch das Bild des Truthahns für die momentane Lage Europas.

Sandschneider: Ja, der Truthahn war zufrieden und arglos, weil er stets seine Körner bekam. Erst kurz vor dem Erntedankfest merkt er, dass er sich geirrt hat, doch zum Umsteuern ist es zu spät. Ich sehe Europa noch nicht auf der Schlachtbank, aber das Exempel verdeutlicht, dass wir in den letzten Jahren in engen Schablonen gedacht und auf vieles nicht vorbereitet waren. Wir reden jetzt von dem Arabischen Frühling, aber im Herbst 2010 hätte niemand gewagt, das vorauszusagen. Oft sind es ja ganz kleine Dinge, die plötzlich eine gewaltige Dynamik entfalten und Politik vor völlig neue Herausforderungen stellen - etwa jener Tunesier namens Mohamed Bouazizi, der sich aus Verzweiflung selbst angezündet hatte und so eine ganze Region in Brand gesetzt hat.

sueddeutsche.de: In welchen Fällen hätten Europa Macht abgeben sollen, um mittelfristig zu profitieren?

Sandschneider: Etwa bei der Wahl von Christine Lagarde zur neuen Chefin des Internationalen Währungsfonds. Das war dieses Mal schon knapp und schon beim nächsten Mal wird es nicht gelingen, dieses seit mehr als 60 Jahren bestehende Anrecht zu verteidigen. Die Aufsteiger werden dann präsentable Kandidaten und auch jene Mehrheiten haben, die wir in zunehmendem Maße international verlieren. Sie werden sich gegen uns durchsetzen, ob wir es wollen oder nicht. Ich denke also, dass es eine sinnvolle Strategie sein kann, Platz zu machen und kooperativ beiseite zu treten, um Spannungen zu vermeiden.

sueddeutsche.de: Auf diese Weise ließe sich der eigene Einfluss bewahren?

Sandschneider: Nehmen Sie den berühmten Satz des damaligen Vizeaußenministers der USA, Robert Zoellick, der China dazu aufrief, ein "responsible stakeholder" in der Weltpolitik zu werden. Das unterstellt, dass man China einladen kann, mehr Verantwortung zu tragen - zu den westlichen Konditionen. Peking wird sicher mehr Verantwortung übernehmen, aber in der Art und Weise, wie China sich das vorstellt. Peking rüstet dank seiner Wirtschaftskraft auf und wird in den nächsten 20 Jahren zu einem globalen Akteur werden und wir sollten uns darauf einstellen.

sueddeutsche.de: Sie sagen, die Zeit der großen Masterpläne sei vorbei und plädieren für Pragmatismus und mehr Effizienz. Wäre China ein Beispiel für solch effizientes Handeln?

Sandschneider: Es gibt keine Garantie für solches Handeln, auch in China nicht. Aber die Eliten in China haben in den letzten 30 Jahren keine entscheidenden Fehler gemacht. Doch dadurch ist nicht gesagt, dass dies nicht in den nächsten 30 Jahren passiert, denn es gibt große Probleme im sozialen und wirtschaftlichen Bereich. Am Ende geht es aber darum, ob gut legitimierte Entscheidungen nicht auch falsch sein können? Die Antwort muss heißen: ja. Demokratische Legitimität muss mit einer effizienten Problemlösung verbunden sein. Wenn Demokratien das nicht leisten, dann können Staaten zugrunde gehen, wie es die Geschichte Lateinamerikas oder auch Deutschlands zeigt.

"Europa tritt zu oft als Besserwisser auf"

sueddeutsche.de: Sie klagen, der Westen habe ein falsches Bild von China. Was fehlt Ihnen?

An employee counts yuan banknotes at a branch of the Pudong Development Bank in Hefei

Eine Angestellte stapelt in einer chinesischen Bank Yuan-Banknoten.

(Foto: REUTERS)

Sandschneider: Unser Chinabild ist zu sehr von Schwarz-Weiß-Denken geprägt. Die Realitäten sehen zum Teil ganz anders aus: Das wird am deutlichsten in der Menschenrechtsdiskussion, die in der Sache natürlich berechtigt ist und die man nicht aufgeben darf. Aber die Art der Besserwisserei, mit der westliche Politiker auftreten, während sie gut beraten wären, die doppelten Standards der eigenen Politik kritisch zu hinterfragen, führt zu einem gefährlichen Glaubwürdigkeitsverlust.

sueddeutsche.de: Was hat das für Folgen?

Sandschneider: Die Idee der Werte, um die es eigentlich geht, nimmt Schaden. Wer westliches Menschenrechtsverständnis in anderen Teilen der Welt propagiert, der darf sich selbst nicht bei all den Dingen erwischen lassen, die im Westen passiert sind. Man muss erklären, warum die Nato in Libyen eingegriffen hat, aber nicht in Syrien. Man muss Abu Ghraib und Guantanamo erklären. Eigentlich müsste man auch begründen, wieso der Westen den Dalai Lama toll findet, aber trotzdem auf enge Wirtschaftsbeziehungen mit China setzt. Diese Diskrepanzen machen unglaubwürdig.

sueddeutsche.de: Sollen die Minister künftig darauf verzichten, in Peking oder Moskau öffentlich auf die Einhaltung von Menschenrechten zu pochen oder Korruption anzuprangern?

Sandschneider: Ich verstehe die Anliegen von Nichtregierungsorganisationen sehr gut. Dass Amnesty International nicht mit der Menschenrechtslage in China zufrieden ist und die Öffentlichkeit aufklären will, ist völlig legitim. Aber die Bundesregierung hat andere Aufgaben als Amnesty oder deutsche Unternehmen. Ein wichtiger Schritt wäre es zu akzeptieren, dass es unterschiedliche Zugänge im Umgang mit bestimmten Staaten gibt. Wir arbeiten mit Diktaturen und Autokratien zusammen, weil es für uns aus vielfältigen Gründen interessant ist - sei es als Märkte für unsere Produkte, sei es als Lieferant wichtiger Rohstoffe. Wenn es gelingen würde, die Legitimität der verschiedenen Zugänge von Unternehmen, Regierungen und NGOs anzuerkennen und uns zu koordinieren, dann wäre der Menschenrechtspolitik gedient.

sueddeutsche.de: In den USA entwickelt sich China immer mehr zum Feindbild, wenn man etwa die Äußerungen von Verteidigungsminister Leon Panetta ernst nimmt. Wieso braucht Washington einen neuen Feind?

Sandschneider: Feindbilder sind sehr nützlich, denn durch sie lassen sich die außenpolitischen Kosten eines Staates gut begründen. Gerade die USA mit ihrem riesigen Militärbudget müssen die Ausgaben für Rüstung rechtfertigen. Durch den klaren Kontrast, den sie bieten, erzeugen sie auch Selbstvergewisserung auf der eigenen Seite. Das ist der zweite Vorteil. Anstelle des internationalen Terrorismus und Al-Qaida-Chef Osama bin Laden tritt nun verstärkt die Volksrepublik China.

sueddeutsche.de: Ist dies noch zu verhindern?

Sandschneider: Europa kann den inneramerikanischen Diskurs nur bedingt beeinflussen. In der europäischen Diskussion spielt Militär und Sicherheit keine Rolle, in den USA ist dies anders. Ich war Anfang 2011 längere Zeit in den USA und bin ernüchtert zurückgekommen. Wenn man über den Aufstieg Chinas und dessen Folgen nachdenkt, so ist in meinen Augen das größte Problem die Reaktion der Amerikaner auf diese Entwicklung. In den Strategiepapieren des Pentagons wird die Volksbefreiungsarmee als der nächste Feind gesehen. Dabei ist es in der internationalen Politik manchmal wie im echten Leben: "Wie man in den Wald hinein ruft, so schallt es heraus".

sueddeutsche.de: Es gibt keine Garantie, dass die nächste Generation der chinesischen Elite sich nicht provozieren lässt oder stärker nationalistisch wird.

Sandschneider: Die Gefahr ist da. Zurzeit besteht die Elite der Volksrepublik aus Ingenieuren, da gibt es noch nicht die Dominanz von Juristen und Lehrern wie bei uns. Das beeinflusst auch die Politik, die eben sehr ergebnisorientiert ist. Die nächste Generation hat die gebrochenen Lebensläufe der jetzigen Führung nicht mehr und kennt die Kulturrevolution nur aus Büchern. Das ist vergleichbar mit unseren Politikern, die den Zweiten Weltkrieg nicht selbst erlebt haben.

sueddeutsche.de: In Peking kommen also bald sehr selbstbewusste Männer an die Macht, die nur den Aufstieg ihres Landes kennen?

Sandschneider: Es gibt eine Generation, die man in China die "Nach-80er" nennt, die sehen ihr Land im steilen Aufstieg. Hunger kennen diese Leute nicht. Es ist aber auch eine Generation, die sehr schnell reich geworden ist. Der Gedanke, der Gesellschaft das zurückzugeben, was man von ihr oder durch sie bekommen hat, ist längst nicht so ausgeprägt wie in Europa. Diese Generation muss erst beweisen, dass sie die riesigen Einkommensunterschiede, die es im Land gibt, ausgleichen kann.

sueddeutsche.de: Momentan profitieren vor allem die Reichen vom Aufschwung.

Sandschneider: Das stimmt, aber in China geht es jedem Chinesen am Ende des Jahres ökonomisch zumindest besser als am Anfang. Natürlich geht es den Reichen sehr viel besser, doch die ärmsten zehn Prozent stehen immerhin noch mit einem Zuwachs von etwas mehr als 30 Prozent. Die Menschenrechtsfrage steht auf einem anderen Blatt, aber ökonomisch ist das eine Erfolgsgeschichte, die darauf basiert , dass man ganz pragmatisch Schritt für Schritt vorangeht und sagt: Funktioniert es? Funktioniert es nicht? Dass nicht alle Bäume in den Himmel wachsen, hat man in den achtziger Jahren gesehen ...

sueddeutsche.de: ... als sich Europa und die USA vom Aufstieg Japans gefährdet sahen.

Sandschneider: Genau, viele Befürchtungen aus dieser Zeit lesen sich nahezu identisch. In den fünfziger Jahren hat uns die wirtschaftliche Entwicklung der kommunistischen Staaten auch Angst gemacht und es kam anders.

"Europa ist für Amerika nur ein Partner unter vielen"

Eberhard Sandschneider, DGAP

Denkt über "Europas erfolgreichen Abstieg" nach: Eberhard Sandschneider, China-Kenner und Forschungsdirektor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik.

(Foto: oH)

sueddeutsche.de: Warum haben Sie Amerika nicht auch in den Titel einbezogen und vom erfolgreichen Abstieg des Westens geschrieben?

Sandschneider: Ich habe nach langer Überlegung beschlossen, mich auf Europa zu beschränken. Aber de facto gilt meine Analyse auch für die USA, deren unipolarer Moment längst vorbei ist. China, Indien, Russland und Brasilien haben das längst bemerkt. Bei allen Diskussionen, die wir um Europa führen: Eigentlich müssen wir uns um die USA viel mehr Sorgen machen. Das ist ein bis zur Unfähigkeit gespaltenes und festgefahrenes politisches System, deren Gesellschaft fast in der Mitte gespalten ist und deren Wertvorstellungen sich unversöhnlich gegenüberstehen. esbleibt zu hoffen, dass dieser Widerspruch bald aufgehoben wird.

sueddeutsche.de: Die transatlantische Partnerschaft zwischen den USA und Europa besteht Ihrer Ansicht nach nur noch auf dem Papier. Wieso braucht Amerika die Europäer nicht mehr?

Sandschneider: Die USA haben ihre Perspektive geändert und schauen eher nach Asien oder Lateinamerika. Die transatlantischen Beziehungen werden gnadenlos schöngeredet. 300 Jahre gemeinsamer Werte helfen uns nicht weiter. Die USA sehen Europa als wichtigen Partner, wenn es um Lastenteilung geht, doch zugleich möchte Washington nicht, dass Europa zu stark wird. Die Nato ist ein Instrument, das die USA bei Bedarf nutzen. Ansonsten sucht man andere Wege.

sueddeutsche.de: Sie plädieren dafür, keine "Angstdebatten" mehr zu führen und nicht länger über europäische Verfassung oder Identität zu diskutieren.

Sandschneider: Viele der Fragen, mit denen wir uns lustvoll in der deutschen Europadiskussion beschäftigen, spielen in anderen EU-Ländern gar keine Rolle. Hier wird Zeit und Energie verschwendet. Wir müssen uns ein wenig von dem befreien, was ich Gebetsmühlenpolitik nenne: Nur weil man manche Dinge tausend Mal wiederholt, werden sie deswegen nicht richtiger.

sueddeutsche.de: Sie haben in Ihrem Buch keine "To-do-Liste" für die Politiker geschrieben. Warum nicht?

Sandschneider: In diesen Tagen könnten das nur Besserwisser. In den Gesprächen mit Abgeordneten merke ich zurzeit eine große Verunsicherung anhand der enormen Probleme. Wir Wissenschaftler sollten es uns auf dem Kommentatorensesseln nicht zu bequem machen. Tauschen mit den Parlamentariern möchte ich zurzeit nicht, denn die Informationslage lässt oft zu wünschen übrig und viele Risiken sind nicht abschätzbar. Allerdings sieht man in der momentanen Krise, dass Visionen mitunter hinderlich sein können. Wer visionär denkt, der muss auch bereit sein, die Vision auf das Durchsetzbare zu reduzieren.

sueddeutsche.de: Also ein Plädoyer für Pragmatismus?

Sandschneider: Ich will nicht predigen, dass ich alles besser wüsste, doch die Aufgabe erfolgreicher Politik besteht darin, tagtäglich Frieden und Wohlstand zu sichern. Das ist schwer genug, doch auch hier lässt sich von China lernen - wenn Vision und Realität nicht übereinstimmen, dann gehört die Vision in die Mülltonne. Wir Europäer suchen stattdessen nach einer neuen Vision oder versuchen, die Realität an die Vision anzupassen.

sueddeutsche.de: Allerdings deuten Sie an, welche Punkte die Bundesregierung konkret ändern sollte.

Sandschneider: Es ist der Weg in die Normalität. Deutschland wird ein normales Land werden, das seine Vergangenheit nicht vergessen darf und wird. Aber wir werden von unseren Verbündeten und Nachbarn als viel gewöhnlicher angesehen als wir das selbst tun. Und außerhalb Europas interessiert sich niemand für die Spezifika der deutschen Historie: Es geht um unsere Positionen und unsere wirtschaftliche Leistungsfähigkeit. Wir werden das ganze Spektrum außenpolitischer Instrumente, inklusive der Bundeswehr, nutzen, um unsere Interessen zu schützen.

sueddeutsche.de: Sie kritisieren auch die deutsche Entwicklungspolitik, in der Vision und Realität auseinanderklaffen.

Sandschneider: Entwicklungspolitik ist in Deutschland zu einer veritablen Industrie geworden, in der Zehntausende Menschen arbeiten. So etwas schafft man nicht einfach ab. Das ist die banale Realität. Natürlich tut Entwicklungshilfe auch viel Gutes an vielen Stellen, aber oft ist es eine Form von verkappter Außenwirtschaftspolitik. Die EU könnte viel besser erfolgreich entwickeln, wenn sie ihre Agrarmärkte für diese Länder öffnet, doch dazu sind wir nicht bereit, weil die Bauernlobby das verhindert. Das ist ein weiterer Punkt, an dem Europa unglaubwürdig ist - und das wird in der Welt wahrgenommen.

sueddeutsche.de: Gibt es denn historische Vorbilder für einen erfolgreichen Abstieg? Welchen Ländern ist es denn gelungen, "heute Macht abzugeben, um morgen zu gewinnen", wie es im Untertitel des Buches heißt?

Sandschneider: Hier wäre Großbritannien zu nennen: Das Land ist seit einem Jahrhundert in einem eleganten Abstieg par excellence. Andererseits sind das Heilige Römische Reich Deutscher Nation oder die Imperien der Antike abgestiegen und zerfallen, was auch zu Lasten des Lebensstandards ihrer Bevölkerung ging. Dass es keine Einbahnstraßen in der internationalen Politik gibt, zeigt erneut das Beispiel China: Das Land war ein halbes Jahrhundert, bevor Christopher Kolumbus Amerika entdeckt hat, die technologische Führungsmacht der Welt, etwa mit einer gewaltigen Hochseeflotte. Das ist 600 Jahre her. So lange war China im Abstieg. Und jetzt steigt China wieder auf - die letzten 300 Jahre. Das mag uns Europäern unglaublich komisch vorkommen, aber in Asien sagen führende Köpfe: Das war eine Entgleisung der Weltgeschichte.

Das Buch "Der erfolgreiche Abstieg Europas. Heute Macht abgeben, um morgen zu gewinnen" von Eberhard Sandschneider ist im Hanser Verlag erschienen.

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