Wolfgang Kubicki wird in seiner FDP für sein loses Mundwerk gefürchtet und bisweilen bewundert. Das jüngste Beispiel war die Wortmeldung des Kieler FDP-Fraktionschefs nach der desaströsen Wahlpleite seiner Partei in Mecklenburg-Vorpommern. In der ihm eigenen Klarheit konstatierte Kubicki, die Liberalen hätten als Marke momentan "generell verschissen".
In der Berliner Parteizentrale sagte man so etwas nicht, aber die Spitze um den Vorsitzenden Philipp Rösler scheint angesichts anhaltend existenzbedrohender Wahlergebnisse und Umfragewerte zu einem ähnlichen Befund gekommen zu sein: Die alte Marke zieht nicht mehr, versuchen wir es anders. Mit Populismus.
So lässt sich erklären, warum die FDP-Führung seit einigen Tagen innerhalb der Regierung einen Zwist anheizt, der sogar in der Historie dieser verkorksten schwarz-gelben Koalition beispiellos ist. Seit Sonntagabend torpediert Rösler den Euro-Kurs von Bundeskanzlerin Angela Merkel - mit kräftiger Beihilfe der CSU.
Längst geht es nicht mehr um den Umgang mit dem hochverschuldeten Griechenland: Die vom Zaun gebrochene Debatte dreht sich um "Denkverbote", um "Ehrlichkeit", um den Umgang der Kanzlerin mit Rösler, der "nicht ganz in Ordnung" sei. So klingen die Kanonaden, die Rösler, sein Generalsekretär Christian Lindner und Fraktionschef Rainer Brüderle Tag für Tag abfeuern. So klingt Stammtisch.
Rösler und seine Mannen positionieren damit die einst dezidiert proeuropäische Partei der liberalen Lichtgestalt Hans-Dietrich Genscher neu: als europakritische Marke. "Die FDP ist auf dem Weg, zur FPP zu werden - zur Freien Populistischen Partei", sagt der Publizist Michael Spreng zu sueddeutsche.de. Er urteilt: "Was wir erleben, ist ein Testlauf, ob man mit antieuropäischen Ressentiments punkten kann".
Man kann offenbar. In der jüngsten Umfrage von Infratest Dimap klettert die FDP von drei auf fünf Prozent - und damit aus dem drohenden außerparlamentarischen Nichts, in dem die Liberalen seit vielen Monaten dümpelten. "Vieles spricht dafür, dass ein Zusammenhang besteht," sagt Richard Hilmer von Infratest Dimap zu sueddeutsche.de und verweist auf einen weiteren pikanten Aspekt: Die Union verliert in der Erhebung genauso viel, wie die Liberalen gewinnen.
Demoskop spricht von "höchstgefährlichem Schwenk"
Riskant ist Röslers Kurs allemal: Zwar fahre die FDP ihre Kampagne auf einem Feld, auf dem man ihr noch Kompetenz beimisst, sagt Meinungsforscher Hilmer. Auf der anderen Seite nennt er den Schwenk "höchstgefährlich". Denn Rösler gefährdet einen wesentlichen Markenkern der FDP, was die Partei zerreißen kann. Die Frage ist, ob er durch diesen Zug mehr gewinnt, als verliert.
Nach außen hat sich die Partei unter der Ägide Guido Westerwelles ohnehin thematisch beschränken lassen. In den zehn Jahren seiner Parteiführung konzentrierte man sich vor allem darauf, gegen den angeblich ausufernden Staat zu wettern und Steuersenkungen einzufordern.
Das klappte als Oppositionspartei prima - bis zur Regierungsübernahme und dem Eintritt in die "Wunschkoalition" mit der Union. Als das Steuerthema wegbrach, wurde offenbar, dass die übrigen liberalen Felder zur politischen Brache geworden waren, die andere Parteien dankbar kultivierten. Im Volk gilt nur noch Westerwelles Parteifeindin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger als glaubwürdige Vertreterin von Bürgerrechten.
Die Bürgerrechtspartei 2011 heißt für viele Bündnis90/Die Grünen. "Ohne Zweifel haben die Freien Demokraten ihr ideologisches Eigenkapital im Rausch eines spekulativen Jahrzehnts verspielt", konstatierte Philosoph Peter Sloterdijk schon im Frühjahr. Die FDP habe ihren Markenkern "entleert", sagt Michael Spreng, der frühere Chefredakteur von Bild am Sonntag und Wahlkampfmanager Edmund Stoibers.
Kubickis Dictum von der "verschissenen" Marke schließt sich der Blogger ( "Sprengsatz") nicht in der Wortwahl, aber inhaltlich ebenso an wie Joachim Koschnicke vom Meinungsforschungsinstitut Forsa.
Dabei sieht Koschnicke durchaus Profilierungschancen der FDP ohne populistische Untertöne: "Als Wirtschaftsminister sollte Rösler erklären, wie die Energiewende funktioniert, welche Chancen sich für den Mittelstand ergeben und für die Exportnation Deutschland", sagt der Demoskop zu sueddeutsche.de. In der Außenpolitik könne man als ehrlicher Makler zwischen den Türken und Israelis vermitteln, wenn man denn einen starken Außenminister hätte - was Westerwelle nicht ist.
Ein ambivalentes Urteil über die Neuausrichtung der Liberalen fällt Karl-Heinz Heuser, FDP-Mitglied, Spin-Doctor und CEO der Agentur Burson-Marsteller in Deutschland. Heuser verteidigt einerseits Rösler und sagt, dass die Aussagen des FDP-Chefs über Griechenland der liberalen Grundphilosophie entsprechen. Anderseits kritisiert Heuser, Rösler habe das "sehr ungeschickt in die öffentliche Diskussion gebracht". Er habe programmatisch richtig argumentiert, doch nicht bedacht, welche Folgen seine Aussagen auf den Finanzmärkten und im Ausland haben.
Gesucht: Starke Persönlichkeiten mit Intellekt und Lebenserfahrung
"Verschissen" habe die Marke keineswegs, sagt Heuser im Gespräch mit sueddeutsche.de, der Name der Partei sei mit klingenden Namen verknüpft wie Genscher, Scheel und Lambsdorff. Starke Persönlichkeiten mit Intellekt und Lebenserfahrung, sagt Heuser, der seit drei Jahrzehnten Parteimitglied ist und Wahlkämpfe der Liberalen mitgemanagt hat.
Als Heuser in die FDP eintrat, hieß der Vizekanzler Genscher. Der langjährige Außenminister schweigt bislang zur laufenden Debatte, allerdings warnte er in einem ausführlichen Interview mit sueddeutsche.de zum Jahresbeginn explizit vor Kampagnen, wie sie nun Rösler betreibt: Die "Renationalisierung des Denkens" in der öffentlichen Debatte vieler EU-Staaten sehe er mit Besorgnis, erklärte Genscher.
Zerstört also Röslers Neupositionierung das Erbe Genschers? Heuser glaubt das nicht. Die Jungen um Rösler dürfen auch ein "bisschen unverfroren" sein, sagt der Medienexperte, doch sie sollten das paaren mit Erfahrung. Medienexperte Spreng winkt ab: "Diese Kampagne zerstört den letzten Rest der Glaubwürdigkeit der FDP."
Die Liberalen hätten es versäumt, die Partei nach dem Wechsel im Vorsitz zur Kraft der Sozialen Marktwirtschaft zu machen. Rösler bewege sich stattdessen in der Tradition seines Vorgängers Guido Westerwelle, der mit seinen Äußerungen zur "spätrömischen Dekadenz" seinen eigenen Abstieg besiegelt habe, analysiert Spreng.
Parteichef Rösler selbst kanzelt den Populismusvorwurf entschieden ab, versicherte er bei dem Wahlkampfabschluss der Berliner FDP am gestrigen Donnerstag: "Eine liberale Partei kann niemals eine populistische Partei sein."
Womöglich hat der Vizekanzler recht. Aber eine ehemals liberale Partei kann das.
Der Autor debattiert unter twitter.com/oliverdasgupta