Bei der Unterzeichnung der Verträge von Rom 1957 war Faure - damals Staatssekretär im französischen Außenministerium - das jüngste Delegationsmitglied überhaupt. Ehe er sich 1994 aus der Politik zurückzog, bekleidete er in Frankreich zahlreiche wichtige politische Ämter. Unter anderem war er in den 80er Jahren Justizminister. Er starb 2014 im Alter von 92 Jahren. Zum 50. Jubiläum der Römischen Verträge im Jahr 2007 gab er SZ.de ein Interview. Auch wenn sich mittlerweile erheblich viel verändert hat, erlaubt das Interview doch auch heute noch erstaunliche Einblicke in die Entstehungsphase der EU. Wir geben es hier deshalb unverändert wieder.
sueddeutsche.de: Herr Faure, Sie haben vor 50 Jahren Ihre Unterschrift unter ein Dokument gesetzt, das noch gar nicht fertig war.
Faure: Ja, es fehlten einige Zusätze, an denen noch geschrieben wurde. Aber im wesentlichen war der Vertrag fertig.
sueddeutsche.de: Was haben Sie an jenem Tag empfunden?
Faure: Es war ein sehr feierlicher Rahmen im Saal der Horatier und Curatier im römischen Kapitol. Wir saßen zu zwölft an jenem langen Tisch, hinter uns die Delegierten, die bei den Verhandlungen dabei gewesen waren, vor uns 500 Journalisten. Wir waren froh über das, was wir vollendet hatten.
sueddeutsche.de: Bei der Unterzeichnung saßen Sie direkt neben Konrad Adenauer. Er soll Ihnen damals einen Zettel zugesteckt haben...
Faure: Ja, wir alle hatten vor uns ein weißes Blatt und einen Stift. Er riss ein Stück ab und schrieb auf Französisch - obwohl er kein Wort Französisch sprach! - in dieser schönen alten gotischen Handschrift: "Im Interesse Europas müssen Sie in der Regierung sein." Adenauer hat mich sehr beeindruckt, wegen seiner Statur, aber auch wegen seiner Art, wie er die Dinge auffasste. Leider habe ich den Zettel verloren.
sueddeutsche.de: Ahnten Sie damals, dass Sie Ihre Unterschrift unter einen Vertrag setzen würden, zu dessen Prinzipien sich fünfzig Jahre später 27 Staaten bekennen?
Faure: Nein, absolut nicht. Zum einen gab es die Demarkationslinie zu den östlichen Staaten, weswegen damals von einem möglichen Eintritt Bulgariens, Polens oder Rumäniens nicht die Rede sein konnte. Zugleich wussten wir, dass das Europa der sechs Staaten (Niederlande, Belgien, Luxemburg, Italien, Frankreich und Deutschland - Anmerkung d. Red.) unfertig war. Jedes demokratische Land - was damals Spanien, Portugal und Griechenland ausschloss - konnte Mitglied des gemeinsamen Marktes werden, wenn es die Regeln der Verträge akzeptierte.
sueddeutsche.de: Schon de Gaulle wollte diese Regeln allerdings nicht uneingeschränkt akzeptieren.
Faure: Ja, die Verträge von Rom sahen vor, dass wichtige Entscheidungen im Rat mit qualifizierter Mehrheit getroffen werden sollten. Das hat de Gaulle nicht gefallen, er wollte Einstimmigkeit. Er hat den Vertrag akzeptiert, bis auf diesen Punkt. Er hat sich durchgesetzt. Das ist im wesentlichen ein halbes Jahrhundert lang so geblieben, was sehr schade ist. Frankreich war damals der schlechte Schüler Europas.
sueddeutsche.de: Die französische Presse war am 26. März nicht allzu gnädig. Le Monde titelte: "Schlechte Bedingungen für den Start Europas" in Anspielung auf Frankreichs Wirtschaftspolitik.
Faure: Damit hatte Le Monde unrecht. In der Tat war Frankreich seit den Zeiten Colberts in Wirtschaftsfragen protektionistisch. Dazu standen die Verträge von 1957 in Widerspruch. Im Zuge der Verhandlungen hat sich Frankreich aber Schritt für Schritt liberalen Konzeptionen angenähert. Aber die Presse beschäftigte sich in jenen Monaten ohnehin vor allem mit dem Krieg in Algerien, und nicht so sehr mit Europa.
"Mit großem Geschick und viel Autorität"
sueddeutsche.de: Sie waren Teil des kleinen Kreises, der die Entwürfe der römischen Verträge erarbeitete. Der Leiter dieses Kreises, der Belgier Paul-Henri Spaak, wurde durch sein Engagement zu einem der Gründerväter Europas. Wie haben Sie ihn erlebt?
Faure: Spaak hat die Verhandlungen unserer kleinen Gruppe mit großem Geschick und viel Autorität geführt. Er war ein großer Europäer und ein hervorragender Redner, der immer die richtigen Worte fand. Er konnte auch ganz schön sauer werden, zum Beispiel wenn sich die Parteien darüber stritten, ob eine Dose Erbsen ein industrielles oder ein landwirtschaftliches Produkt ist.
sueddeutsche.de: Welche Differenzen galt es noch zu überwinden?
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In der Krise - und doch ausgezeichnet: Die Europäische Union bekommt 55 Jahre nach ihrer Gründung den Friedensnobelpreis 2012. Von der Montanunion bis zur Einführung des Euros - ein Blick auf die Meilensteine.
Faure: Im wesentlichen gab es zwei Punkte, über die Uneinigkeit herrschte. Die Landwirtschaft war in den sechs Ländern so unterschiedlich organisiert, dass einige sie vom gemeinsamen Markt ausnehmen wollten. Frankreich und Italien bestanden aber darauf, und so wurde es auch festgeschrieben. Außerdem wollten Frankreich, Belgien und die Niederlande, dass ihre Überseegebiete mit dem gemeinsamen Markt assoziiert würden.
Manche in Frankreich taten sogar so, als sei das ein Geschenk, für das es eine Gegenleistung geben müsste. In Wahrheit standen viele dieser Gebiete kurz vor der Unabhängigkeit und zogen mehr Nutzen aus dem europäischen Markt als sie ihm einbrachten. In diesem Zusammenhang hat ein deutscher Delegierter mal gesagt: "Wir hatten auch mal solche Gebiete, aber wir hatten das Glück, sie zu verlieren." Dennoch haben Deutschland und Italien das am Ende akzeptiert.
sueddeutsche.de: Nachdem das französische Parlament 1954 die Europäische Verteidigungsgemeinschaft abgelehnt hatte, schien das Projekt Europa in einer Sackgasse. Sehen Sie eine Parallele zur aktuellen Situation nach dem "Nein" Frankreichs zur EU-Verfassung 2005?
Faure: Absolut. 1954 war eine große Enttäuschung, aber danach hat sich Europa aus der Krise befreit. Aber heute hat Europa 27 Mitglieder, und dass die sich auf ein Projekt einigen, ist ungleich schwieriger. Ich hoffe natürlich, dass es trotzdem gelingt.
sueddeutsche.de: Fehlt heute der Gründergeist von 1957?
Faure: Nein, der europäische Geist ist heute der gleiche wie bei den Unterzeichnern von 1957, in deren Namen ich als letzter Überlebender sprechen kann. Es gibt ein grundsätzliches Problem. Die Erweiterung um zwölf Staaten war vielleicht ein Fehler. Für viele östliche Länder kommt nach Jahrzehnten des Kommunismus die EU-Mitgliedschaft vielleicht zu früh. Man hätte etwas warten sollen.