Süddeutsche Zeitung

Richard von Weizsäcker und die deutsche Einheit:Der Missverstandene

  • Richard von Weizsäcker mahnte schon früh, das wiedervereinigte Deutschland müsse zusammenwachsen, dürfe aber nicht unangemessen schnell und unkontrolliert "zusammenwuchern".
  • Anders als viele West-Politiker verstand er es, die Sorgen und Nöte der Bürger im Osten wahrzunehmen und zu artikulieren.
  • Wo Kanzler Kohl noch den Eindruck vermittelte, die Einheit sei quasi zum Nulltarif zu haben, sprach Weizsäcker von der Notwendigkeit des Teilens.

Von Thorsten Denkler, Berlin

Es ist der Tag danach, der Tag nach dem Fall der Mauer. Vielleicht auch Tag zwei. Richard von Weizsäcker meinte, es müsse der 10. oder der 11. November 1989 gewesen sein. Am Abend des 9. hatten die Grenzsoldaten der DDR an der Bornholmer Brücke die Mauer aufgemacht. Weizsäcker saß an dem Abend im Auto von Westdeutschland zurück nach Berlin. Er verfolgte im Radio die Ereignisse. "Freudig erregt" sei er gewesen.

Eine Freude, die ihn, den Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland, auf die Idee brachte, an diesem 10. oder 11. November allein über den Potsdamer Platz zu gehen. Der war damals eine Ödnis. Der Todesstreifen war hier weit mehr als hundert Meter breit. Weizsäcker spazierte auf die Mauer zu. Ein Wachhäuschen der DDR-Grenztruppen in Sicht. Etwa 50 Meter davor ein Grenzsoldat. Er salutierte und rief Weizsäcker zu: "Herr Bundespräsident, ich melde: keine besonderen Vorkommnisse!"

Es ist eine Geschichte, die viel über das Verhältnis der Bürger der DDR zum westdeutschen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker erzählt. Vielen galt er als ihr Präsident, noch bevor die Mauer gefallen war. Und erst recht, als es sie nicht mehr gab. Marion Gräfin Dönhoff schrieb 1994 in der Zeit eine Würdigung seiner beiden Amtszeiten von 1984 bis 1994: Weizsäcker sei "ein Präsident für alle Bürger" gewesen.

"Zusammenwachsen ja, aber nicht zusammenwuchern"

Wohl auch, weil er die Sorgen der Bürger aus dem Osten ernster nahm als etwa der Machtpolitiker Helmut Kohl, dem Weizsäcker schon damals zum Intimfeind geworden war.

Altkanzler Willy Brandt, wie Weizsäcker einst Regierender Bürgermeister von Berlin, hatte in den Wendetagen den Satz geprägt: "Es wächst zusammen, was zusammen gehört." Weizsäcker ergänzte ihn später um einen Satz, der ihm viel Ärger unter jenen einbrachte, die die Einheit zügig über die Bühne bringen wollten: "Zusammenwachsen ja, aber nicht zusammenwuchern."

Weizsäcker zu unterstellen, er hätte die Einheit Deutschlands nicht mit der gleichen Hingabe gewollt wie fast der ganze Rest der Republik, wäre falsch. Er, der große Analytiker, war nur in der Lage, die Probleme nicht allein in den technischen, rechtlichen und ökonomischen Fragen zu sehen. Weizsäcker wollte vielmehr verhindern, schrieb Robert Leicht im April 2010 in der Zeit, "dass der Zug zur Einheit im allzu rapiden Tempo entgleist". Er wollte die Menschen mitnehmen. Sie nicht überfahren.

In seiner Rede am 3. Oktober 1990, dem Tag der Deutschen Einheit, berichtete er von einer Frau aus dem Osten, die ihm einen Brief geschrieben habe. Dankbar sei sie für die neue Freiheit. Aber sie hätte nicht gewusst, "wie sehr die Veränderung an die Nerven gehe, wenn sie geradezu einen Abschied von sich selbst verlange". Sie habe nichts sehnlicher gewollt, als das Regime loszuwerden. "Aber damit zugleich fast alle Elemente des eigenen Lebens von heute auf morgen durch etwas Neues, Unbekanntes ersetzen zu sollen, übersteigt das menschliche Maß", erkannte Weizsäcker.

Es seien die Systeme, die sich in ihrem Erfolg unterschieden, "nicht die Menschen". Das "wird sich noch sehr deutlich zeigen, wenn die Deutschen in der bisherigen DDR endlich die gleichen Chancen bekommen, die es im Westen seit Jahrzehnten gibt."

Zugleich mahnte er die Deutschen im Westen, dass Vereinigung auch teilen bedeute. Kohl hatte damals den Eindruck erweckt, die blühenden Landschaften könnten ohne jede Steuererhöhung quasi aus der Portokasse der reichen Bundesrepublik bezahlt werden. Ein historischer Irrtum. Oder eine historische Täuschung.

Weizsäcker hatte lange dafür gekämpft, dass die Einheit über den Artikel 146 des Grundgesetzes erfolgen sollte. Das hätte bedeutet, dass sich die Deutschen gemeinsam an eine neue Verfassung gemacht hätten. "Ich hätte mir leidenschaftlich die Möglichkeit für die Bevölkerung der ehemaligen DDR gewünscht, ein eigenes Votum über die Vereinigung abzugeben, und dies nicht nur durch Westwanderung", sagte er später einmal.

Weizsäcker bleibt bei der Einheit hinter Kohl zurück

Er habe schließlich das Argument akzeptiert, dass das Zeitfenster für diesen Weg zu eng bemessen gewesen sei. Zufrieden gestellt hat es ihn nie. "Dass dadurch die ostdeutsche Bevölkerung letztlich darauf verwiesen blieb, einfach bei der nächsten gemeinsamen Bundestagswahl für eine der Parteien zu stimmen oder sich zu enthalten, war ein notwendiger, aber eben nur ein Ersatz für das, was nach Artikel 146 vorgesehen war." Er hatte darin die einmalige Chance gesehen, den Menschen eine "zentrale innere Beteiligung am demokratischen Leben" zu ermöglichen. "Vielleicht wäre ein Stück vom Politikverdruss nicht entstanden durch so ein positives, einigendes Erlebnis."

Die Wendezeit war die Zeit der Exekutive, in der Helmut Kohl sich seinen Ruf als Kanzler der Einheit erwarb. Weizsäcker blieb dahinter zurück. Wie auch anders? Sein Amt speist sich aus der Kraft des Wortes. Er mag sich seltener zu Wort gemeldet haben damals, als es sich manche gewünscht haben. Aber wenn er sprach, dann sagte er die richtigen Dinge.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.2329793
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
Süddeutsche.de/mane/jab/mati/cat
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.