Süddeutsche Zeitung

Richard von Weizsäcker:Ein Jahrhundert-Leben

  • Nur wenigen Politikern im Nachkriegsdeutschland ist so großer Respekt zuteil geworden wie Weizsäcker.
  • In seiner Rolle als Bundespräsident stand er über den Parteien. Ganz besonders über seiner eigenen Partei, der CDU.
  • Weizsäcker sprach nicht nur für die Nation, sondern auch für eine Generation, die im Krieg wenn nicht insgesamt zu Tätern, so doch zu Mitläufern und Mittuern geworden war.
  • Die Auseinandersetzung um die Nazizeit respektive der Konflikt über die mangelnde Auseinandersetzung haben das politische Klima lange geprägt. Weizsäcker hat ihn für sich glaubwürdig gelöst.

Kommentar von Kurt Kister

Richard von Weizsäckers Leben währte fast ein Jahrhundert. Als er im April 1920 geboren wurde, betrauerten viele den Kriegstod des deutschen Kaiserreichs, und in München lud eine winzige Partei zu Auftritten ihres Redners Hitler. Jetzt ist Weizsäcker im Januar 2015 gestorben, in einem Deutschland, das zu seinen Lebzeiten aus eigener Schuld einmal unterging, geteilt und verkleinert wieder auferstand, und schließlich - da war er Bundespräsident - in der Einheit eine neue Identität fand. Das ist sehr viel Geschichte für ein einziges Leben.

Nur wenigen Politikern im Nachkriegsdeutschland ist jener Respekt bis hin zur Verehrung zuteil geworden wie Weizsäcker. Kaum einer hat dieses Amt von kleiner Macht, aber großer Wirkung so ausgefüllt wie er. Es gab Bundespräsidenten von denen man zurecht befürchtete, dass sie nicht wachsen würden in ihrem Amt, obwohl es nötig gewesen wäre, weil sie als Nutznießer parteiischer Taktik Präsident geworden waren. Weizsäcker dagegen hatte die Statur. Wer das nicht anerkennen wollte, dem konnte er drastisch, manchmal herrisch demonstrieren, wie sicher er sich seiner selbst war.

Das Ideal eines Überparteilichen, prägend für Deutschland

Als Bundespräsident war Weizsäcker populär; je länger er das Amt innehatte, desto populärer wurde er. Er stand in seiner unnachahmlichen Art wirklich über den Parteien. Ganz besonders stand er über seiner eigenen Partei, der CDU. Dies hatte auch mit sehr Persönlichem zu tun: Sein früher Förderer Helmut Kohl wurde über die Jahre zum Neider, ja Gegner des Bundespräsidenten. Was Kohl im Übermaß beherrschte, nämlich die innerparteiliche wie die allgemeine Machttaktik, gehörte nicht zu Weizsäckers großen Stärken. Auch weil die CDU unter Kohl eine rustikale Machterhaltungsmaschine geworden war, fiel es Weizsäcker leicht, sich von ihr, ja von den "operativen" Politikern überhaupt, zu distanzieren. Er tat dies meist so eloquent, dass es sehr viele Deutsche freute. Fair war es nicht immer.

Zu Weizsäckers enormer Wirkung im Bundespräsidialamt gehörte eindeutig, dass er in der Wahrnehmung vieler dem Ideal des überparteilichen Präsidenten sehr nahe kam. Und außerdem entsprach er jenem Bild, das sich wiederum viele zumindest damals von einem Bundespräsidenten gemacht hatten: gebildet, freundlich-distanziert, seriös, eher Aufsichtsrat als Opa. Jemand, zu dem man aufschauen konnte, ohne dass man deswegen in die Knie gehen musste. Wer als Inhaber eines solchen Amtes den Respekt vor dem Amt ausdrücklich einfordern muss, der ist eine Fehlbesetzung.

Respekt genoss Weizsäcker seit seinem Amtsantritt, und dieser Respekt wird lange über seinen Tod hinaus bleiben. Seine berühmte Befreiungsrede erzielte ihre Wirkung nicht nur, weil sie ein Bundespräsident hielt, sondern weil sie dieser Bundespräsident hielt. Weizsäcker sprach nicht nur für die Nation, sondern auch für eine Generation, die im Krieg wenn nicht insgesamt zu Tätern, so doch zu Mitläufern und Mittuern geworden war. Dass die Besetzung durch die Alliierten gleichzeitig Befreiung war, hatten vor ihm andere gesagt, auch im Bundestag. Am 8. Mai 1985 aber sagte es der Hauptmann a. D. Weizsäcker, der anderes aus seiner Vergangenheit gelernt hatte als etwa die Nationalkonservativen um den CDU-Mann Alfred Dregger, ebenfalls Hauptmann a. D. und Jahrgang

Er hat seine Zweifel und sein Lernen zum Allgemeingut gemacht

Im Jahr 2015 mag es seltsam erscheinen, dass das Aussprechen einer historischen Selbstverständlichkeit noch 1985 zu erheblichen Kontroversen geführt hat. Wer aber im Nachkriegs-Westdeutschland aufwuchs, der weiß, dass nichts das politische Klima über lange Zeit so prägte wie die Auseinandersetzung über die Nazizeit respektive der Konflikt über die mangelnde Auseinandersetzung. Deutschlands 68er-Bewegung, letztlich die Veränderung der Republik von Willy Brandt an, ist ohne diesen Konflikt nicht zu verstehen. Er spielte auch stets bei der Beurteilung von Bundespräsidenten bis Weizsäcker eine erhebliche Rolle.

Weizsäcker hat diesen Konflikt mit sich selbst und in seiner Familie ausgefochten. Er hat ihn für sich glaubwürdig gelöst, und er hat es verstanden, seine Zweifel und sein Lernen in der berühmten Rede gleichsam zum Allgemeingut der nicht von ihm regierten, aber repräsentierten Deutschen zu machen. Das hat, wie manche andere historischen Momente (Brandt in Warschau), nicht allen gefallen. Aber es war ein Ereignis, das Deutschland geprägt hat.

Richard von Weizsäcker war ein Glücksfall im Amt des Bundespräsidenten. Weil er so lange gelebt hat, zählte er bis in diese Tage zu jenen bewunderten Alten, von denen man denkt, dass es sie eigentlich nicht mehr gibt. Wahrscheinlich ist das so - und es ist sehr schade.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.2330476
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 02.02.2015
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.