Revolutionsforscher über die Lage in Libyen:"Es gibt Wichtigeres als Demokratie"

Was kommt nach Gaddafi? Der Despot ist verschwunden, die libysche Hauptstadt Tripolis von den Rebellen erobert. Doch der Kampf sei noch lange nicht vorbei, sagt Ekkart Zimmermann. Der Soziologe warnt vor einem lang anhaltenden Bürgerkrieg. Er erklärt, warum er vorerst nicht an ein demokratisches Libyen glaubt - und weshalb die Gewalt jetzt erst recht eskalieren könnte.

Lilith Volkert

Ekkart Zimmermann, Jahrgang 1946, ist Professor für Makrosoziologie an der Technischen Universität Dresden. Er beschäftigt sich seit Jahren mit der Erforschung von Krisen, Konflikten und Revolutionen. Zimmermann lebt in München.

Revolutionsforscher über die Lage in Libyen: Libyscher Straßenkünstler beim Malen eines Gaddafi-Wandbildes: Der Revolutionsforscher Zimmermann warnt vor einem lang anhaltenden Bürgerkrieg in dem nordafrikanischen Land.

Libyscher Straßenkünstler beim Malen eines Gaddafi-Wandbildes: Der Revolutionsforscher Zimmermann warnt vor einem lang anhaltenden Bürgerkrieg in dem nordafrikanischen Land.

(Foto: AFP)

sueddeutsche.de: Vor gut zwei Wochen haben die libyschen Rebellen Tripolis eingenommen. Man hatte das Gefühl, das war der endgültige Sieg. Zu Unrecht?

Ekkart Zimmermann: Es gibt diese Vorstellung, dass eine Revolution abgeschlossen ist, wenn die Aufständischen die Hauptstadt erobert haben. Doch es gibt auch andere Beispiele: Nach der erfolgreichen Französischen Revolution in Paris hat man noch jahrelang in der Provinz gekämpft.

sueddeutsche.de: Was bedeutet das für Libyen?

Zimmermann: Der Kampf ist noch nicht zu Ende. Auch wenn die Revolution von der Provinz ausgegangen ist, hat sie ihn dort noch nicht gewonnen. Man darf nicht vergessen, dass Libyen eine Stammesgesellschaft ist und Gaddafi zum Teil noch großen Rückhalt hat.

sueddeutsche.de: Wie wird es weitergehen? Kann man nicht vom Verlauf anderer Revolutionen auf diese hier schließen?

Zimmermann: Leider nicht. Der amerikanische Historiker Crane Brinton hat zwar einmal versucht, eine Theorie zu entwickeln, die den Ablauf von Revolutionen abbildet und einer Fieberkurve gleicht. Doch das ist absurd. Jede Revolution verläuft anders - und jede lernt von den vorhergehenden.

sueddeutsche.de: Zum Beispiel?

Zimmermann: Die Kommunisten in Russland haben sich von den Jakobinern der Französischen Revolution die Organisationsform abgeschaut, die absolute Verschwiegenheit, die unerbittliche Ausschaltung jedes einzelnen Gegners. Bei der friedlichen Revolution in Deutschland 1989 war man vollkommen überrascht, dass Leute auf Demonstrationen mit Videokameras gefilmt haben. Live-Übertragungen im Fernsehen waren damals ganz neu. Heute werden Revolutionen übers Internet organisiert und gefilmte Szenen sofort online gestellt.

sueddeutsche.de: In Libyen kündigt sich ein Machtkampf unter den Rebellen an: gemäßigtere Kräfte gegen radikale Islamisten.

Zimmermann: Das ist häufig der Fall, dass sich die Sieger bekämpfen, wenn der gemeinsame Feind zur Strecke gebracht ist. Glaubt man dem Historiker Charles Tilly, dann setzt die eigentliche Gewalt oft erst nach der Machtübernahme ein.

sueddeutsche.de: Droht Libyen ein lang anhaltender Bürgerkrieg?

"Am besten wäre ein fairer Prozess gegen Gaddafi"

Zimmermann: Die Gefahr besteht. Es gibt sehr viele Leute, die sich am alten Regime rächen wollen - und eine Menge frei verfügbarer Waffen. In dieser Situation wäre ein charismatischer, gemäßigter Führer ideal. Wie Nelson Mandela in Südafrika: Nach dem Ende der Apartheid 1994 hat er einen Bürgerkrieg verhindert, indem er sich gegen Vergeltung ausgesprochen und seinen Feinden die Hand gereicht hat. In Libyen sehe ich so jemanden aber nicht.

sueddeutsche.de: Während des Kampfes gegen Gaddafis Truppen haben Islamisten die schlagkräftigste Gruppe gestellt, ein ehemaliger Al-Qaida-Mann ist heute Militärchef von Tripolis. Viele fürchten nun, sie könnten das Ruder an sich reißen.

Zimmermann: Diese Vorstellung ist tatsächlich bedrohlich. Doch ich finde, man sollte diesen Leuten eine gewisse Chance geben. Nicht alle sind religiöse Fanatiker, viele ehemalige Al-Qaida-Anhänger haben gesehen, dass in den zehn Jahren seit dem 11. September 2001 nichts erreicht wurde und dass sich durch den arabischen Frühling auch die Großwetterlage für al-Qaida verändert hat. Natürlich ist trotzdem Vorsicht angebracht.

sueddeutsche.de: Wie sollten die Rebellen jetzt am besten vorgehen?

Zimmermann: Die entscheidende Frage ist momentan: Was passiert mit den vielen Waffen, die völlig unkontrolliert kursieren? Die Libyer müssen so schnell wie möglich ein neues Gewaltmonopol errichten und durchsetzen. Außerdem sollten sie einen klaren Zeitplan erstellen, nach dem eine Verfassung ausgearbeitet wird.

sueddeutsche.de: Wie wichtig ist es, dass Gaddafi gefasst wird?

Zimmermann: Sehr wichtig, vor allem aus symbolischen Gründen. Faktisch hat er seine Macht ja längst verloren, doch er und seine Anhänger könnten den Aufbau eines neuen Staates extrem stören. Am besten wäre es, Gaddafi bekäme einen fairen Prozess mit souveränen Richtern, die verhindern, dass er im Gerichtssaal eine große Show abzieht. So würde er seinem Land einen letzten Dienst erweisen: Man könnte die Verbrechen seines Regimes aufarbeiten und die Überlegenheit des neuen Systems demonstrieren.

sueddeutsche.de: Wie schnell werden die Libyer jetzt Verbesserungen in ihrem Alltag spüren?

Zimmermann: Die wirtschaftliche Leistung eines Landes geht nach einer Revolution immer erst einmal deutlich runter - wegen des Durcheinanders, der zerstörten Produktionsstätten, der vielen getöteten Arbeitskräfte. Die Hoffnung der Leute, dass sich ihre Situation sofort verbessert, gilt also bestenfalls für den Bereich der freien Meinungsäußerung und der unmittelbaren Verfolgung durch die Polizei. Aber für die wirtschaftlichen und die anderen politischen Rahmenbedingungen muss man Geduld haben.

sueddeutsche.de: Wie kann der Westen in dieser Situation helfen? Indem er Geld zum Wiederaufbau schickt?

Zimmermann: Tatsächlich würde eine Art Marshallplan helfen. Viel wichtiger wäre aber, dass die EU aufhört, sich so massiv abzugrenzen. Würde man - was längst überfällig ist - die europäischen Agrarsubventionen abschaffen, hätten Produkte aus Nordafrika auf dem Weltmarkt eine Chance und viele Menschen dort ein Auskommen. Außerdem sollte man junge Leute eine Zeitlang zur Ausbildung nach Europa kommen lassen. Leider ist die EU gerade zu sehr mit eigenen Problemen beschäftigt, um diese Chance zu ergreifen.

sueddeutsche.de: Wie bekommt das Land jetzt wieder Stabilität?

Zimmermann: Wenn ein sogenanntes sultanistisches Regime - also eines mit einem willkürlichen Herrscher - abgewickelt wird, ist die Prognose für den neuen Staat paradoxerweise am ehesten, dass jemand den frei gewordenen Platz einnimmt, der weiß, wie das alte Machtgefüge funktioniert und der eine Art stark abgemilderter Autokratie ausübt.

sueddeutsche.de: Sie glauben also nicht an ein demokratisches Libyen?

Zimmermann: Gaddafi war über 40 Jahre an der Macht, so lange wie sonst nur Fidel Castro in Kuba. Die meisten Libyer kennen gar nichts anderes als sein brutales Regime. Und der Aufbau einer Demokratie dauert entsetzlich lange, man muss sehr viel Geduld haben. Für die Libyer gibt es gerade Wichtigeres.

sueddeutsche.de: Was denn?

Zimmermann: Dass der Staat halbwegs funktioniert, dass sie Lebensmittel kaufen und ihre Kinder zur Schule schicken können, dass die Krankenhäuser arbeiten. Ist das alles nicht der Fall, erzeugt das sehr schnell neuen Unmut, und dann wird es extrem gefährlich.

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