Süddeutsche Zeitung

Revolution in Karlsruhe:Sicherungsverwahrung für die Sicherungsverwahrung

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Sicherungsverwahrung stellt unmissverständlich klar: Wenn es um die Freiheit geht, darf ein Rechtsstaat nicht schludern. Das gilt auch für den Umgang mit gefährlichen Straftätern.

Heribert Prantl

Es ist ein Urteil, wie man keines sah. Selten hat man ein so detailliertes Karlsruher Urteil gelesen, selten ein so großes Misstrauen gegen dem Gesetzgeber gespürt, selten eine so präzise Abwägung von Freiheit und Sicherheit gelesen.

Das Verfassungsgericht entlässt gefährliche Täter nicht einfach nach Verbüßung der Haft in die Freiheit, die Öffentlichkeit muss sich also nicht fürchten. Aber das Verfassungsgericht fordert eine viel genauere Prüfung im Einzelfall.

Wenn es um die Freiheit geht, darf ein Rechtsstaat nicht schludern. Die Schutzpflicht des Staates, die Pflicht des Staates also, die Bevölkerung zu schützen, die das Gericht sehr wohl sieht und achtet, kann kein Freibrief sein für Schluderei und keine Entschuldigung für gesetzgeberischen Wirrwarr.

Es ist ein grundstürzendes Urteil, ein revolutionäres Urteil. Das höchste Gericht geht mit der Strafvollzugspolitik der vergangenen zehn, zwanzig Jahre hart ins Gericht. Das Urteil akzeptiert es nicht, dass Rechtspolitik mit Wirtshausparolen gemacht wird.

Es ist ein Urteil, das den Wert von Grundrechten lehrt - und es nicht zulässt, dass man die Freiheitsrechte zu kleiner Münze schlägt. Das Urteil macht klar, dass Gefängnisse nicht Räume des verdünnten Rechts sind. Sicherungsverwahrung ist nicht die deutsche Variante von Guantánamo, bei der man potentiell gefährliche Menschen in Haft lässt, weil man sonst nicht weiß, was man mit ihnen machen soll. Das Urteil macht also klar, dass für die Menschen, die dort einsitzen, das Grundgesetz und seine Grundrechte nicht nur halb gelten. Haft ist keine Institution, bei der und in der man es nicht so genau nehmen muss. Der Gesetzgeber aber hat es seit Jahren nicht mehr genau genommen. Er hat die Gefährlichkeit von Menschen Pi mal Daumen beurteilt, und sie im Zweifel in Haft belassen.

Oft wurde nur das Schild umgedreht, das vor der Zelle hängt: Sicherungsverwahrung statt Strafhaft; und Erstere im Zweifel lebenslänglich. Zwischen Strafhaft und Sicherungsverwahrung besteht in der Praxis der Gefängnisse kaum ein Unterschied. Das alles hat die Richter umgetrieben und sie zu einem Urteil veranlasst, das die Rechtspolitiker zwingt, das gesamte System der Sicherungsverwahrung neu zu konstruieren.

Die Richter sind nicht verrückt, sie tun ihre Pflicht - und sie tun sie auf beeindruckende Weise: Sie lassen sich nicht scheuchen von populistischer Maßlosigkeit. Nein, sie machen nicht die Tore der Sicherungsverwahrung einfach auf. Sie sorgen mit Übergangsvorschriften und penibel vorgeschriebenen Prüfungen dafür, dass nach der Haft nur der in Haft bleibt, der psychisch krank und gefährlich ist.

"Wegschließen - und zwar für immer": Das war vor zehn Jahren die Devise von Bundeskanzler Gerhard Schröder; er wollte, dass gefährliche Täter in Haft bleiben, auch wenn sie ihre Strafe abgesessen haben.

Jetzt, nach zehn Jahren, hat das Bundesverfassungsgericht die Antwort darauf gegeben. Das Gericht sagt, sinngemäß: Wegschließen - und zwar für immer. Das Gericht meint aber nicht die Häftlinge, sondern die einschlägigen Gesetze. Sie werden weggesperrt und weggeschlossen. Sie müssen neu geschrieben werden.

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