Nur etwa 1000 Meter liegen zwischen den beiden Republiken, die am 9. November 1918 ausgerufen werden. Der SPD-Politiker Philipp Scheidemann beschreibt es in seinen Erinnerungen so: An diesem historischen Tag drängen ihn plötzlich Arbeiter und Soldaten im Reichstag zu einer historischen Tat: "Scheidemann, komm schnell, vom Schlossbalkon redet Liebknecht", sollen sie gerufen haben.
Liebknechts Auftritt ist zwar zunächst nur ein Gerücht. Doch Scheidemann denkt entsetzt: "Deutschland also eine russische Provinz? Eine Sowjetfiliale? Nein! Tausendmal Nein!"
Er muss dem Linksrevolutionär Liebknecht zuvorkommen. Und tritt hinaus auf eine Balustrade vor die Massen: "Das Volk hat auf ganzer Linie gesiegt. Das alte Morsche ist zusammengebrochen; der Militarismus ist erledigt! Es lebe die deutsche Republik!"
"Verlasst die Straßen! Sorgt für Ruhe und Ordnung!"
Später am Tag verkündet dann Liebknecht vom Schloss aus tatsächlich die "freie sozialistische Republik". Für den Anführer der linksradikalen Spartakus-Gruppe ist klar: "Wir müssen alle Kräfte anspannen, um die Regierung der Arbeiter und Soldaten aufzubauen und eine neue staatliche Ordnung des Proletariats zu schaffen." Und er ruft auf zur "Vollendung der Weltrevolution".
Ja, das klang nach Bolschewismus, nach "Alle Macht den Räten", nach Sowjetfiliale. Auch wenn diese Gefahr in der Realität nie wirklich bestand - die Spartakisten waren eine winzige Gruppe, schlecht vernetzt und oft zerstritten über die richtige Strategie -, die "Bolschewistenangst" ist in den folgenden Monaten eine wichtige Konstante im Denken deutscher Politiker. Auch bei zahllosen Bürgern, die um ihre Privilegien fürchten, geht diese Angst angesichts der blutigen Vorgänge in Russland um.
In Liebknechts Augen steht die eigentliche Revolution noch bevor, die SPD will sie am liebsten so schnell wie möglich in ruhige Bahnen lenken. Am allerliebsten hätte der Parteivorsitzende Friedrich Ebert sogar ganz auf sie verzichtet. Er hatte doch schon die von oben erzwungene Parlamentsreform vom 26. Oktober 1918 freudig als "Geburtstag der Demokratie" in Deutschland gefeiert.
Doch nun ist der Kaiser aus Berlin abgereist, und aus Norddeutschland rollt die von den Matrosen ausgelöste Revolutionswelle auf die Hauptstadt zu. Obwohl die SPD doch versucht hat, mithilfe des Abgeordneten Gustav Noske die Bewegung dort einzudämmen. Nun verlangt Ebert vom Reichskanzler Max von Baden ultimativ die Abdankung Wilhelms II., nur so könne der "Übergang der Massen in das Lager der Revolutionäre" noch verhindert werden.
Und dann ist der 9. November da. Die Arbeiter sind im Massenstreik, auf den Straßen und Plätzen drängen sich Zehntausende in gespannter Erwartung, rote Fahnen wehen überall.
Max von Baden entschließt sich zu einer einsamen Tat und verkündet ohne jede Absprache den Thronverzicht des Kaisers, das Amt des Kanzlers übergibt er ohne Rechtsgrundlage in Eberts Hände. Der Kaiser lässt es geschehen, verlässt das Große Hauptquartier im belgischen Spa und geht ins Exil nach Holland.
Und was macht Ebert? Er rüffelt Scheidemann. Was aus Deutschland werde, ob eine Republik oder sonst was, das entscheide eine "Konstituante", also eine verfassungsgebende Versammlung, und nicht irgendein Politiker. Aber es muss ja irgendwie regiert werden. Und zwar jetzt.
Am Abend appelliert Ebert an die Menschen: "Verlasst die Straßen. Sorgt für Ruhe und Ordnung." An die Beamten appelliert er, auf ihrem Posten zu bleiben, sonst drohe Anarchie, und an das Heimatheer richtet er die Bitte, die Dienstgeschäfte weiterzuführen.
Die Revolution hat gesiegt. Bei Schießereien gibt es Dutzende Tote, aber niemand von den alten Eliten wird verprügelt, aus seinem Haus gejagt oder gar ermordet. Es gibt fast keine Plünderungen. Es gibt keinen Bankensturm.
Offizieren werden die Rangabzeichen und Kokarden von den Uniformen gerissen, das ist alles. Es ist eine disziplinierte, friedliche - und eine seltsame Revolution. Das Alte, Morsche ist offensichtlich weg, man ist zufrieden, dass nun endlich bald die Waffen schweigen werden. Es soll Ruhe einkehren und kein Chaos, da sind sich viele Deutsche mit Ebert einig. Doch was wird das Neue sein?
Der Chefredakteur des Berliner Tageblatts, Theodor Wolff, schreibt in seinem Leitartikel, der am 10. November erscheint: "Die größte aller Revolutionen hat wie ein plötzlich losbrechender Sturmwind das kaiserliche Regime mit allem, was oben und unten dazugehörte, gestürzt. Man kann sie die größte aller Revolutionen nennen, weil niemals eine so fest gebaute, mit so soliden Mauern umgebene Bastille so in einem Anlauf genommen worden ist."
Sozialistisch ist an diesem Programm nicht viel
Schöne Worte, oft zitiert, doch es mangelt an Hinweisen darauf, dass Revolutionen üblicherweise mit dem Umsturz der Gesellschaftsordnung und mit Eingriffen in die Eigentumsrechte einhergehen. Mit der "Schonung" der alten Gegner, wie es sich Wolff von Ebert erhofft, dürfte es jedenfalls schwer werden, eine neue Ordnung zu etablieren.
Aber Ebert will gar keine neue Ordnung etablieren. Er steht vor gewaltigen Problemen, die es pragmatisch zu lösen gilt: Das Volk soll vor einer Hungersnot bewahrt werden (die Seeblockade der Alliierten bleibt bis zu einem Friedensvertrag bestehen), das Westheer muss in der enorm knappen Zeit von zwei Wochen zurück über den Rhein geführt werden, die Wirtschaft rasch von Kriegs- auf Friedensproduktion umgestellt werden; acht Millionen Soldaten sind wieder ins Zivilleben zu integrieren - und das Volk hat die harschen Waffenstillstandsbedingungen vom 11. November zu verdauen, die einen Vorgeschmack geben auf den späteren Friedensvertrag von Versailles im Sommer 1919.
Am 10. November 1918, nur einen Tag nach Ausrufung der Republik, einigen sich SPD und USPD, die sich 1917 aus Protest gegen den Krieg von ihr abgespalten hat, auf eine Art Koalitionsregierung, Ebert und der USPD-Vorsitzende Hugo Haase leiten ein paritätisch besetztes sechsköpfiges Gremium, das sie "Rat der Volksbeauftragten" nennen.
Das Regierungsprogramm vom 12. November setzt sich zur Aufgabe, das "sozialistische Programm zu verwirklichen". Zwar wird im SPD-Parteiprogramm von 1891 noch immer die reine Lehre vom Klassenkampf und der Diktatur des Proletariats vertreten, doch die Parteiführung setzt schon seit Langem auf Evolution statt auf Revolution. Und sie weiß die Massen der Arbeiter und Soldaten in dieser Phase hinter sich.
Darum wird also mit Gesetzeskraft verkündet: das Ende des Belagerungszustands, das Ende der Zensur, freies Versammlungsrecht, freie Meinungsäußerung, freie Religionsausübung, der achtstündige Maximalarbeitstag, bessere Krankenversicherung, Schutz des privaten Eigentums, Bekämpfung der Wohnungsnot - und als wichtigstes: allgemeines, gleiches, geheimes und direktes Wahlrecht für alle Bürger ab 20 Jahre. Und das heißt mit anderen Worten: In Deutschland gibt es zum ersten Mal ein Frauenwahlrecht.
Sozialistisch ist an diesem Programm nicht viel. Doch Ebert sieht sich vor allem als "Konkursverwalter". Die zwei wichtigsten Entscheidungen für die Zukunft: Demokratie oder Räteherrschaft und Privatwirtschaft oder Sozialisierung dürfen aus seiner Sicht auf keinen Fall von Arbeiter- und Soldatenräten getroffen werden, sondern nur durch eine vom ganzen Volk gewählte Nationalversammlung.
Von Haus aus haben weder SPD noch die Gewerkschaften ein großes Interesse daran, die Besitzverhältnisse im Reich grundlegend zu ändern - was für linke USPD-Aktivisten und Spartakisten allerdings die conditio sine qua non einer echten Revolution darstellt.
Die Gewerkschaften schließen schon am 15. November mit den Arbeitgebern einen Pakt, der ihnen erstmals das volle Vertretungsrecht gegenüber den Unternehmern sichert; Achtstundentag und Arbeitsplatzgarantie für Kriegsheimkehrer sind weitere Erfolge. Dafür verschiebt man das Thema Sozialisierung der Schlüsselindustrien (Bergbau, Montanindustrie, Energiewirtschaft) gerne auf die lange Bank.
Emil Barth, ein deutscher Revolutionär
Er fällt auf in der seriösen Herrenrunde, der Mann mit dem wachen, misstrauischen Blick: Emil Barth (1879 - 1941) ist im sechsköpfigen, paritätisch von SPD und USPD besetzten Rat der Volksbeauftragten der Linksaußen. Wenige Wochen zuvor hat er noch heimlich Schusswaffen für einen Arbeiteraufstand beschafft, in der Geheimorganisation der "Revolutionären Obleute" den gewaltsamen Umsturz gepredigt. Der Sozialdemokrat Scheidemann nennt ihn in seinen Memoiren den "hyperradikalen Barth", den man "durch Erziehung auf die Stufe einfachster Gesittung heben" müsste. Barth wiederum sieht in Scheidemann und Regierungschef Ebert "zwei mit Fuchsschlauheit, mit Sophistik und Strebertum bis obenhin vollgefüllte, in der Parteibürokratie ausgebildete Routiniers". Barths Ego ist so gewaltig wie seine Neigung zum Alleingang, er vertritt den linken Flügel der USPD, hasst aber den dogmatischen Kommunisten Karl Liebknecht mit gleicher Inbrunst wie dieser ihn. Dogmatik ist Emil Barth zuwider, er ist ein freier Sozialist mit Leib und Seele. Weil er sich mit fast jedermann überwirft, ist sein Nachruhm sehr begrenzt; darüber wird aus dem Blick geraten, dass Barth im Herbst 1918 der ideale Vermittler zwischen den Volksbeauftragten und vielen radikaleren Revolutionären wäre und weitsichtige Ideen in die Regierungsarbeit einbringt: So fordert er, die Oberste Heeresleitung, die das Reich im Krieg fast diktatorisch geführt hat, zu verhaften, die Generäle zu entlassen und wichtige Posten mit Revolutionären zu besetzen. Es soll nicht so kommen, Ebert hat sich schon mit dem alten Militär verbündet. Emil Barth scheitert politisch auf ganzer Linie und versinkt ab 1920 in Vergessenheit - das Leben eines deutschen Revolutionärs.
Noch am 10. November schließt auch Ebert eine Art Pakt mit General Wilhelm Groener, dem Nachfolger des entlassenen Erich Ludendorff als Chef der Obersten Heeresleitung.
Groener stellt die Armee, faktisch das Feldheer, in den Dienst der Regierung und macht sie so zum entscheidenden ordnungspolitischen Faktor der nächsten Monate - und Ebert lässt die Strukturen in der Generalität und im Offizierskorps weitgehend unangetastet. Er hofft auf die Loyalität der Militärs, doch die denken nicht daran; sie haben eine eigene Agenda.
Völkische Nationalisten und Monarchisten können aufatmen
Ebenso wichtig wird eine dritte Weichenstellung: Der Rat der Volksbeauftragten behält die obrigkeitsstaatlichen Strukturen in Verwaltung und Justiz bei und garantiert umgehend "die Gehalts-, Pensions- und sonstigen Rechtsansprüche der in öffentlichen Diensten stehenden Beamten und Angestellten". Niemand wird entlassen.
Die alten, morschen Eliten sind mit Ausnahme der Fürsten doch noch da. Ja, die Nationalisten, Monarchisten und Völkischen können vorerst aufatmen, niemand wird ihnen etwas antun, ihr Besitz scheint gesichert zu sein. Man kann nun ganz in Ruhe die Konterrevolution vorbereiten.
Die SPD-Führung kann vorerst auch zufrieden sein. Die Linksradikalen hat sie schön eingebunden in ihr Konzept und damit ausmanövriert. Durch ihre starke Vernetzung und gut ausgebaute Organisation hat die SPD die meisten Arbeiterräte und viele Soldatenräte hinter sich gebracht. Bestätigt wird die SPD-Linie auf dem Reichsrätekongress in Berlin Mitte Dezember.
Der SPD stehen auf dieser Versammlung im Preußischen Abgeordnetenhaus etwa 330 Delegierte nahe, der USPD etwa 100 und den Spartakisten nur zehn.
Wenig überraschend lehnt der Kongress die Einführung eines Rätesystems in Deutschland ab und terminiert die Wahl zur Nationalversammlung auf den frühestmöglichen Zeitpunkt am 19. Januar 1919.
Weniger erfreut ist die SPD über den Beschluss, "mit der Sozialisierung aller hierzu reifen Industrien, insbesondere des Bergbaus, unverzüglich zu beginnen", und über den Wunsch nach der "Zertrümmerung des Militarismus" und "Abschaffung des Kadavergehorsams".
Jetzt wird offensichtlich, dass die Arbeitermassen, die Soldaten, Linksliberale und alle revolutionär Gestimmten unzufrieden sind mit der sich etablierenden neuen Ordnung, die ja offenbar weitgehend die alte ist. Gerade viele Proletarier haben sich mehr erwartet von dieser Revolution: eine strukturelle Demokratisierung von Verwaltung und Wirtschaft, einen klareren Bruch mit dem Obrigkeitsstaat und auch eine Umverteilung des Besitzes.
Die SPD aber bleibt bei ihrem Kurs. Das Thema Sozialisierung wird verschleppt, zum Militär steht man treu und fest. Jetzt werden auch die Kontroversen mit der eigenen Anhängerschaft heftiger. Die radikale Linke wittert ihre Chance.
Scheidemanns Albtraum von der "Sowjetfiliale" ist noch nicht zu Ende. Er beginnt gerade erst.