Reportage aus Haiti:Hinter jedem Problem wartet das nächste

Ein schweres Erdbeben hat Haiti getroffen - ein Land, das bereits von Hunger, Elend und Armut geplagt ist. SZ-Korrespondent Peter Burghardt hat den Inselstaat vor kurzem besucht.

Manchmal bleibt die Weltarmee einfach stecken im haitianischen Sumpf. Der weiße Geländewagen, der die schwarzen Buchstaben UN trägt, gräbt seine Reifen in den Schlamm am Rande von Cité Soleil, der wohl deprimierendsten Siedlung der westlichen Hemisphäre.

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Naturkatastrophen, Armut, Kriminalität: Haiti ist ein von vielen Dämonen geplagtes Land. Am 12. Januar 2010 verwüstete ein schweres Erdbeben die Insel.

(Foto: Foto: Getty)

Die Räder drehen durch, brasilianische Soldaten mit den blauen Stahlhelmen der Vereinten Nationen auf dem Kopf steigen ab. Ihr Jeep sitzt fest, schieben allein reicht auch nicht mehr.

Ein paar Uniformierte entsichern ihre Gewehre, für alle Fälle, obwohl vorläufig kaum Gefahr in Sicht ist. Bloß Kinder kommen aus rostigen Wellblechhütten über die Müllberge herbeigeeilt, halb nackt oder mit zerrissenen Klamotten, ausgezehrt oder aufgedunsen.

Armut? Es ist das blanke Elend.

Es stinkt nach Kloake, und man erinnert sich daran, was an einer anderen katastrophalen Ecke gerade erst der Oberst Alan Sampaio Santos aus Brasilia angekündigt hatte: "Jetzt werden wir die richtige Armut sehen."

Armut? Das ist das blanke Elend, mehr Afrika als Amerika. Drei von vier Haitianern müssen mit zwei Dollar und weniger am Tag auskommen.

In Cité Soleil, der Sonnenstadt, dem größten und berüchtigtsten Slum der Hauptstadt Port-au-Prince, ja der ganzen Karibik, hausen viele der 300.000 Bewohner im Nichts. Als elendster Teil gilt dieses Viertel mit dem kreolischen Namen Ti-Ayiti, auf Französisch Petit Haiti, Klein-Haiti.

Zwischen Seen aus schimmerndem Abwasser und Kanälen voller Plastikmüll versammeln sich die existentiellsten Probleme des geplagten Landes: Dreck, Krankheiten, Unterernährung, Gewalt, dabei leuchtet gleich dahinter das türkise Meer. "Das hier ist die traurige Realität", sagt Sampaio Santos.

Seine Truppe wirkt bei ihren Rundgängen, als marschierten Marineinfanteristen durch Kalkutta. Doch ohne die UN-Soldaten wäre es vermutlich noch schlimmer, auch wenn das Unternehmen Frieden bisweilen im Morast versinkt.

Bis vor einigen Monaten wären die Kämpfer der Weltgemeinschaft mit einem Kugelhagel empfangen worden, erst recht bei solchen Autopannen. Cité Soleil zählte zu den gefährlichsten Orten der Erde, Mauern und Blechwände sind von Schüssen durchlöchert. Freunde und Feinde des vormaligen Armenpriesters und Präsidenten Jean-Bertrand Aristide bekämpften einander hier, Aristides Privatkrieger trugen die Waffen des aufgelösten Militärs.

Ein gespenstischer Dokumentarfilm nannte diese Milizen die "Geister von Cité Soleil", ihr Guerillakrieg mit zerstückelten und verkohlten Leichen trug den Namen "Operation Bagdad". Im Jahr 2004 entsandte der Weltsicherheitsrat die Stabilisierungsmission Minustah, derzeit bestehend aus 9000 Blauhelmen, Polizisten und Zivilisten. Inzwischen hat die multinationale Einheit oberflächlich aufgeräumt, aber sie bleibt fremd in der Voodoo-Republik.

Für manche Einheimischen sind die Peacekeeper das kleinere Übel nach all den Straßenschlachten und Meuchelmorden, andere verachten sie hingegen als Besatzer. Haiti ist stolz darauf, sich 1804 von der französischen Fremdherrschaft befreit zu haben - der erste Staat des Planeten, der das Joch von Sklaverei und Kolonialismus abwarf.

Später fielen die USA ein, danach installierten Papa Doc und sein Sohn Baby Doc Duvalier ihr Terrorregime, bis Aristide kam - und der Aufbruch in eine neue Zeit zum nächsten Desaster führte. Mittlerweile gibt es im einst freien Haiti Hunderttausende Kindersklaven und mehr Abfallberge als Arbeitsplätze.

Aristide lebt seit 2004 im Exil in Südafrika, doch sein Geist spukt noch durch Haiti, und die UN-Mission arbeitet in einem Minenfeld.

Haiti hängt am Tropf

Die Nothelfer der Weltgemeinschaft kommen aus Nepal, Indien und China, vor allem aber aus Lateinamerika und besonders aus Brasilien. Die aufstrebende Wirtschaftsmacht führt die internationalen Streitkräfte in ihrer bisher größten Militäraktion, das macht den Einsatz im Armenhaus des Kontinents zu einem regionalen Härtetest.

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(Foto: SZ-Karte)

Coronel Sampaio Santos ist dabei ein mittlerer Charge, er trägt eine coole Sonnenbrille und ähnelt ein wenig dem Capitao Nascimento in dem preisgekrönten Favela-Film "Elitetruppe". Sein Kontingent nutzt Erfahrungen von Rio de Janeiros Militärpolizei und probt in Cité Soleil umgekehrt auch für den Einsatz in den von Drogenhändlern beherrschten Favelas daheim.

Das Gefecht um die von Warlords besetzte Sonnenstadt wurde zum Feldzug. Nach ungezählten Toten und Hunderten Verhaftungen hat sich das Klima von Anarchie, Lynchjustiz und Entführungen beruhigt. "Ohne Minustah würde ich weniger gut schlafen", sagt ein Diplomat.

Haitis Präsident René Préval regiert unterdessen relativ ungestört in seinem blütenweißen Palast, schräg gegenüber steht ein unvollendetes Riesenmonument für seinen Vorgänger Aristide. Kürzlich heiratete Préval gemütlich, die meisten Landsleute indes sind so arm wie gehabt, und ohne die Schutzmacht der UN würde es für den Staatschef noch wesentlich schwieriger.

Haiti, Insel des Unglücks

Sein zweiter Wahlsieg 2006 war von Betrugsvorwürfen begleitet, unter seiner Führung wurden seit 2008 zwei Premierminister abgesetzt. Seine Partei mit dem trügerischen Namen Lespwa (Hoffnung) wurde kurzerhand - und ebenso irreführend - in Unity (Einheit) umbenannt, Aristides Partei Lavalas (Lodernde Flut) wurde verboten.

2010 werden Parlament und Präsident gewählt, Haitis Politelite wird wieder nervös. Und die Serie der Unglücke reißt nicht ab.

Der damalige Minustah-Oberbefehlshaber Urano Teixeira da Matta wurde Anfang 2006 tot in seinem Hotelzimmer in den grünen Hügeln von Petionville über Port-au-Prince gefunden. Selbstmord, hieß es.

Außerdem wüteten Hurrikane, kosteten Tausende Leben und Milliarden Dollar. Dann trieb die Lebensmittelkrise mit kaum bezahlbarem Import-Reis aus den USA Bürger und Banden auf die holprigen Straßen. Studenten protestierten für die Erhöhung der Mindestlöhne von 1,75 auf fünf Dollar - pro Tag, nicht pro Stunde.

Deyè mòn, gen mòn, lautet ein Sprichwort - jenseits der Berge sind noch mehr Berge, hinter einem Problem wartet das nächste. "Wir sind vorangekommen, die Sicherheit hat sich dramatisch verbessert, die Lage ist stabiler", findet Hédi Annabi, der oberste Friedenshüter.

Der Jordanier sitzt in seinem Büro im alten Hotel Christopher, dem Minustah-Hauptquartier. Aber Annabi sagt auch: "Wir brauchen mehr Einsatz der internationalen Gemeinschaft."

Die Milliarden, die ein Monat Krieg im Irak oder in Afghanistan kostet, würden reichen, um Haiti weitgehend zu sanieren. Stattdessen sammelte eine Geberkonferenz magere 320 Millionen Dollar ein, einige Gläubiger erließen Auslandsschulden. "Viel zu wenig", klagt Annabi.

Das ehemals blühende Antillen-Land hängt am Tropf. 600 Millionen Dollar jährlich stecken die UN in Minustah, mehr als eine Milliarde geben weitere Gönner wie Venezuelas Präsident Hugo Chávez, diverse Hilfsorganisationen und Emigranten. Der Milliardär George Soros will in Cité Soleil eine Fabrik bauen.

Der UN-Sondergesandte Bill Clinton, der in Haiti einst mit Hillary seine Flitterwochen verbrachte, flog mit Unternehmern ein, er wirbt mit niedrigen Löhnen und hohen Gewinnen. Doch auch die früher halbwegs einträgliche Textilindustrie ist zusammengebrochen. Kaum jemand investiert, Geld verschwindet, die Oberschicht hortet ihren Reichtum hinter Mauern oder im Ausland, Millionen Haitianer sind geflüchtet. Der Tourismus gedeiht nur in Ghettos.

"Du kannst hier etwas machen, aber nicht mit diesen Politikern", klagt eine einheimische Geschäftsfrau. Das größte Geschäft, so heißt es, ist der Schmuggel mit Kokain, Haiti ist zu einem beliebten Transitland geworden.

Särge werden immer gebraucht

Wie lange sollen die Blauhelme noch bleiben - und reichen ihnen irgendwann blaue Barette aus weichem Stoff statt der Stahlhelme? "Unsere Präsenz wird noch eine Weile gebraucht", sagt UN-Statthalter Hédi Annabi, sein Auftrag wurde verlängert.

Minustah bildete 9000 haitianische Polizisten aus, die Polizeistation in Cité Soleil ähnelt einer Festung, doch das reicht noch lange nicht in einem zerfallenen Staat. "Wir wissen, dass da Leute sind, die warten", sagt der chilenische General Ricardo Toro. Er meint versteckte Rebellen und Milizen in Cité Soleil.

"Wir werden gemocht", glaubt der brasilianische Oberst Alan Sampaio Santos. In einer Schule in einer Ruine von Cité Soleil, wo nur jedes zehnte Kind zur Schule geht, wird den Besuchern ein brasilianisches Lied gesungen. Doch die Mägen füllt das nicht.

"Ich habe das alles satt", sagt eine Frau, "niemand hilft uns." Sie verkauft Kekse aus getrocknetem Lehm, beschmiert mit etwas Butter und Zucker. Ihr Mann ist tot, sie wohnt mit sechs Kindern in einem Verschlag, der bei Regen binnen Minuten überschwemmt ist.

Es mag weniger gefährlich sein, seit die UN-Truppen da sind. Aber Sicherheit kann man nicht essen. Zu den einträglichsten der wenigen Jobs gehört der eines Schreiners von Särgen, denn Särge werden immer gebraucht.

Manche Einwohner wollen den ehemaligen Staatschef Aristide zurück, ihren Messias, Cité Soleil ist seine Bastion. "Gut und Böse lässt sich hier nicht mehr unterscheiden", sagt Alinx Jean-Baptiste von der Kindernothilfe, "Aristide nützt das aus, er spricht deren Sprache" - "Aristide für immer", steht an Wänden, "Aristide, Rückkehr", "Revolution".

Jeden Tag donnern Flugzeuge über das Elendsviertel, darin sitzen reiche Haitianer und Ausländer. Der Flughafen liegt in der Nähe, nach Miami sind es nur zwei Flugstunden, das Touristenparadies Santo Domingo ist sogar nur eine halbe Stunde entfernt. Rue Progrès steht an einer Mauer: Straße des Fortschritts. Und auf den Sammeltaxis ist immer wieder das Wort pacience zu lesen. Geduld.

Das Internationale Rote Kreuz hisst vorsichtshalber die weiße Fahne bei Fahrten zur Krankenstation in Cité Soleil. Auf den Straßen Essen oder andere Hilfsgüter verteilen dürfen die Rot-Kreuz-Helfer nicht, es gäbe ein Chaos. Die UN-Soldaten tragen Kampfmontur bei ihren Patrouillen - man weiß ja nie. In Ti-Ayiti rufen die Brasilianer jetzt Beistand aus der Kaserne und ziehen ihr havariertes Fahrzeug aus dem Matsch.

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