Immer mehr Senioren in Deutschland beziehen zusätzlich zu ihrer Rente Sozialhilfe. Im ersten Quartal dieses Jahr bekamen fast 720 000 Rentner die sogenannte Grundsicherung im Alter. Das geht aus Zahlen des Statistischen Bundesamts auf Anfrage der BSW-Gruppe im Bundestag hervor, über die die Neue Osnabrücker Zeitung berichtet. Der Übersicht zufolge ist das ein Höchstwert und ein Anstieg um knapp 35 000 im Vergleich zum März 2023. Seit 2015 gab es einen Anstieg um etwa 40 Prozent (511 915).
Für die Chefin und Namensgeberin der BSW-Gruppe, die Abgeordnete Sahra Wagenknecht, ist das ein Skandal. Dieses Allzeithoch sei „das nächste Armutszeugnis“ für die Ampelkoalition, zitiert sie die Zeitung. Die Entwicklung zeige, „dass das deutsche Rentensystem viele alte Menschen zu entwürdigender Armut verdammt“.
Tatsächlich sind die Gründe für den Anstieg vielschichtig – er resultiert laut Experten zu einem Teil schlicht daraus, dass der Bund inzwischen auch Menschen mit der Grundsicherung unterstützt, die sie vorher nicht bekommen hätten. Und er hat mit dem Krieg in der Ukraine zu tun.
Ex-Caritas-Chef: „Mehr Leistungsempfänger, weil der Sozialstaat mehr leistet“
Als das Statistische Bundesamt im April die Zahlen für das Jahr 2023 vorlegte, zeigte sich: Die Zunahme erklärte sich zu einem großen Teil damit, dass die Zahl der „Leistungsberechtigten“ aus der Ukraine zwei Jahre lang deutlich gestiegen war, also die Zahl älterer Menschen, die vor dem Krieg nach Deutschland geflohen sind.
Diese Tatsache betont auch der frühere Generalsekretär des Deutschen Caritasverbandes, Georg Cremer: „Es ärgert mich wahnsinnig, dass dieser Anstieg mit einer Verschlechterung der sozialen Lage und einem vermeintlich maroden Rentensystem in Verbindung gebracht wurde“, sagte er im Mai in einem Gespräch mit der Zeit. „Das Gegenteil ist doch richtig: Es gibt mehr Leistungsempfänger, weil der Sozialstaat mehr leistet, und nicht etwa, weil die Not zunimmt.“
Dass die Zahl der Empfänger der Grundsicherung im Alter steigt, hängt zudem mit einer Gesetzesänderung zusammen: Seit 2021 können Menschen, die mindestens 33 Jahre lang gearbeitet, Kinder erzogen oder Angehörige gepflegt, aber wenig verdient haben, einen zusätzlichen Freibetrag geltend machen. So wurden im Jahr 2021 bis zu 223 Euro ihrer Rente nicht auf die Grundsicherung angerechnet, in diesem Jahr waren es bereits bis zu 281,50 Euro. „Wer also mit seinem Einkommen bisher knapp über einem Grundsicherungsanspruch lag, kann durch den neuen (jährlich steigenden) Freibetrag anspruchsberechtigt werden“, erläuterte eine Sprecherin der Deutschen Rentenversicherung im März. Auch damit erkläre sich die Zunahme der Zahlen.
Ein weiterer Grund könnte sein, dass in den vergangenen Jahren die Ausgaben fürs Wohnen deutlich gestiegen sind: Vielerorts sind die Mieten teurer geworden – und besonders in den vergangenen beiden Jahren auch das Heizen. Damit reicht unter Umständen die Rente nicht mehr für den Lebensunterhalt.