Rentenreform:Rente mit 63 möglicherweise verfassungswidrig

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Ärger um die Rente mit 63: Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) Ende Juni 2014 im Bundestag (Foto: dpa)

Es lief alles ziemlich gut für Arbeitsministerin Nahles' wichtigstes Projekt. Doch nun sagen Experten, dass die Ausnahmen bei der Rente mit 63 gegen das Grundgesetz verstoßen könnten. Beobachter glauben, dass das Gesetz bald vor den Sozialgerichten landet - und dann beim Verfassungsgericht.

Von Thomas Öchsner, Berlin

Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) hat es von Anfang gesagt. Die neuen Rentengesetze so schnell fertig zu bekommen, sei "ein Husarenritt". Trotzdem gerieten ihre Mitarbeiter nicht ins Stolpern. Das Rentenpaket wurde rechtzeitig fertig und trat wie geplant zum 1. Juli in Kraft. Nun zeigt sich bereits wenige Tage später: Die Koalition muss womöglich nachbessern. Denn die in letzter Minute aufgenommenen Ausnahmen bei der abschlagsfreien Rente ab 63 sind wahrscheinlich nicht mit dem Grundgesetz (GG) vereinbar. Zu diesem Ergebnis kommt ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestags, das der Süddeutschen Zeitung  vorliegt.

Die Rente ab 63 ohne Abzüge vom Altersgeld erhält, wer 45 Beitragsjahre in der Rentenversicherung nachweisen kann. Dabei werden auch Zeiten anerkannt, in denen Arbeitslosengeld I (nicht Hartz IV) bezogen wurde. Nahles wollte damit unnötige Härten bei langjährig Versicherten vermeiden, die wie viele Arbeitnehmer in Ostdeutschland kurzzeitig ohne Stelle waren. Es gibt aber eine Ausnahme, die auf Druck des Wirtschaftsflügels der Union ins Gesetz kam: Bei den letzten zwei Jahren vor dem jeweiligen Rentenbeginn werden Zeiten der Arbeitslosigkeit nicht angerechnet, um eine Welle von Frühverrentungen mit 61 zu vermeiden.

In dem Gutachten, das der rentenpolitische Sprecher der Grünen, Markus Kurth, beantragt hatte, geht es nun um die Ausnahme von der Ausnahme: Wird die Arbeitslosigkeit in den entscheidenden zwei Jahren durch eine Insolvenz oder vollständige Geschäftsaufgabe des Arbeitgebers verursacht, wird diese Phase bei den 45 Beitragsjahren berücksichtigt. Nach betriebsbedingten Kündigungen gilt dies allerdings nicht. Genau dies dürfte jedoch "wohl gegen den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz aus Art. 3, Abs. 1 GG verstoßen", heißt es in der juristischen Bewertung des Wissenschaftlichen Dienstes.

Die neue Rente werde schon bald die Sozialgerichte beschäftigen, sagen die Grünen voraus

Die Gutachter erkennen an, dass die Bundesregierung durch einen Ausschluss von betriebsbedingten Kündigungen einen Missbrauch verhindern wollte, der zu mehr Frühverrentungen führt. Sie hegen aber "schwerwiegende Bedenken an der Angemessenheit der Ungleichbehandlung". So sei es problematisch, "dass kaum zu ergründen sein dürfte, wenn zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern missbräuchliche Absprachen über die Beendigung des Arbeitsverhältnisses nach außen als betriebsbedingte Kündigungen wirken".

Vielmehr würden so "Arbeitnehmer und Arbeitgeber gleichermaßen unter Generalverdacht gestellt", obwohl es bereits an Kenntnissen über den Umfang eines möglichen Missbrauchs fehle. Es sei mithin "nicht nachvollziehbar, dass diejenigen, die aufgrund einer betriebsbedingten Kündigung ausscheiden und infolgedessen tatsächlich unfreiwillig arbeitslos werden, weniger schutzwürdig sein sollen als diejenigen, die aufgrund einer Insolvenz oder vollständigen Geschäftsaufgabe des Arbeitgebers aus dem Arbeitsverhältnis ausscheiden".

Die Unterscheidung in dem Gesetz sei beliebig. Dies würde besonders dann deutlich, wenn man daran denkt, dass betriebsbedingte Entlassungen eine bereits drohende Insolvenz oder eine vollständige Geschäftsaufgabe des Arbeitgebers abwenden können. Hier "hinge es nur vom Zufall ab", aus welchem Grund die Person arbeitslos würde.

Der Grünen-Politiker Kurth fühlt sich dadurch an seiner Kritik an der Rente ab 63 bestätigt: "Jetzt zeigt sich, zu welchen Ergebnissen die Panikmache um eine vermeintliche Frühverrentung ab 61 führt - zu blindem Aktionismus und Stümperei." Der zweijährige Ausschluss bei der Anrechnung auf die 45 Jahre sei eine Reaktion auf ein Scheinproblem, die Sonderregel müsse die Bundesregierung ersatzlos streichen.

Auch die Deutsche Rentenversicherung kritisierte am Dienstag bei einem Seminar die Ausnahmen von den Ausnahmen: "Die verwandten Begriffe Insolvenz und vollständige Geschäftsaufgabe sind unbestimmt. Sie geben auf manche Fragen, die sich in der Praxis stellen, keine Antwort", sagte die Bereichsleiterin Sylvia Dünn. Ist es zum Beispiel eine vollständige Geschäftsaufgabe, wenn eine Einzelhandelskette eine Filiale schließe? Auch Innen-, Justiz- und Arbeitsministerium hatten ursprünglich "verfassungsrechtliche Risiken" gesehen. Die Sonderregel würde auch Menschen treffen, "bei denen kein Mitnahmeeffekt" und kein "versicherungswidriges Verhalten" vorliege, hieß es in einer Stellungnahme der drei Ressorts.

Kurth ist sich deshalb sicher: Die Rente ab 63 wird bald vor Sozialgerichten und später beim Verfassungsgericht landen. Für eine Normenkontrollklage beim höchsten Gericht fehlen den Grünen - selbst bei Zustimmung der Linken- etwa 30 Stimmen im Bundestag.

© SZ vom 09.07.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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