Süddeutsche Zeitung

Religion:Wo Millennials auch am Mittwoch beten

Lesezeit: 5 Min.

Die christlichen Kirchen in Deutschland verlieren Mitglieder und Finanzkraft. Ein unaufhaltsamer Trend? Zu Besuch bei zwei Gemeinden, die junge Menschen begeistern.

Von Matthias Drobinski, Essen/Augsburg

Ganz blau ist der Raum. Bomben haben vor 75 Jahren der evangelischen Marktkirche in der Essener Innenstadt einen Teil des Kirchenschiffs weggerissen, ein kluger Architekt hat die Wunde gelassen und nur mit einer blauen, gläsernen Fassade verschlossen, die kühle Ruhe verbreitet. Eine goldene Schale steht in der Mitte, mit glühender Kohle für die Weihrauchkörner. Ein Konzertflügel ist da. Es ist Mittwoch, kurz vor 19 Uhr. Vom Marktplatzrummel kommt ein Mann herein, die Daumen in die Hosentaschen gehakt; eine Distanzgeste: Na gut, bleibe ich halt. Es kommen noch elf weitere Besucher; es kommen Kirsten Graubner, die Pianistin, und Hanna Jacobs, die Pfarrerin. Akkorde tragen die Stimmen: "Bist du müde und ausgelaugt? Und deine Seele ist erschöpft und aufgeschürft?" Das "Raumschiff Ruhr", wie sich das Treffen im orbitblauen Raum nennt, soll ein Ort für die Gestressten und Getriebenen sein. "Achte auf dich und geh dem nach, was dir guttut", sagt die Pfarrerin in die Stille.

500 Kilometer weiter südöstlich, im Industriegebiet bei der Augsburger Messe, füllt sich an einem Dienstag gegen 17 Uhr der große Raum des Gebetshauses Augsburg mit 60 Frauen und Männern zwischen Mitte 20 und Mitte 40, ein paar Älteren, ein paar Kindern. Gitarre, Keyboard und Schlagzeug legen los, Arme gehen in die Höhe und wiegen im Strom der Musik. "Wir beten für Europa", ruft Johannes Hartl, und die Gemeinde ruft zurück: "Europe shall be safe!" Eine goldene Decke entnüchtert den Zweckbau, vorn auf der Bühne hängt ein schlichtes Holzkreuz. 60 Menschen an einem Werktag in religiöser Ekstase - das ist nur der Vorgeschmack auf das, was kommen wird. Vom 3. Januar an werden 12 000 meist junge Menschen die Augsburger Messehallen füllen, zum Gebet, zu Vorträgen, Konzerten. Am Dreikönigstag gibt es eine Messe mit Kardinal Kurt Koch, dem Ökumene-Beauftragten des Papstes.

Bis 2060 könnte sich die Zahl der Kirchenmitglieder halbieren

Mit den christlichen Kirchen in Deutschland geht es bergab, lauten die Prognosen. Vergangenen Mai veröffentlichte das Freiburger Forschungszentrum Generationenverträge eine Studie, der zufolge bis zum Jahr 2060 Mitglieder und Finanzkraft der beiden großen Kirchen sich halbieren werden. Die Stimmung ist getrübt bei vielen Christen: Alles geht den Bach hinunter. Dabei gibt es Gemeinden und christliche Initiativen, die wachsen und ausstrahlen, gegen alle Trends. Das Raumschiff Ruhr und das Gebetshaus sind nur zwei von vielen. Unterschiedlicher könnten sie kaum sein, auf den ersten Blick jedenfalls.

Das fängt bei der Leitung an. Hanna Jacobs, die Pfarrerin in Essen, ist 30 Jahre alt, eine lebendige Frau mit offenem Lachen und Kurzhaarschnitt; sie hat eine Kolumne in der Zeit-Beilage Christ und Welt, wo sie schon mal die Abschaffung der Predigt fordert - die Form habe sich überlebt. Das 2016 gestartete Raumschiff kam ihr gerade recht als erste Stelle: ein Ort für junge Erwachsene, die neu in der Stadt sind und einen Platz suchen, an dem sie einfach willkommen sind, erst gibt es Kirsten Graubners Musik und anschließend Stullen und Möhrensticks. "Da würde ich selber gerne hingehen", sagte sie sich und bewarb sich; ihre Arbeit ist mehr Selbstverwirklichung als Selbstaufopferung.

Johannes Hartl ist zehn Jahre älter als die Pfarrerin aus dem Ruhrgebiet, verheiratet und Vater von vier Kindern, promovierter katholischer Theologe. Er ist ein drahtiger Mann, der sich gerne in Begeisterung redet. Als Student hatte Hartl eine Vision: Es müsste einen Ort geben, an dem 24 Stunden am Tag und sieben Tage die Woche gebetet wird. Er gab alle Sicherheit dran und gründete 2005 mit seiner Frau in Augsburg ein Gebetshaus; mittlerweile betet die Gemeinschaft in einem ehemaligen Fitnessstudio, mit mehr als 100 Freiwilligen und 49 hauptamtlichen Betern, finanziert durch Spenden und den Verkauf von CDs und Büchern, kirchensteuerfrei.

Eine Besucherin trauert um ihren toten Opa, ein anderer hadert mit der Religion

Auch das Publikum von Raumschiff und Gebetshaus ist sehr unterschiedlich. In Essen sind es die Individualisten, die den Mittwochabend zum Sonntag machen. Die einen sind fast jede Woche da, die anderen nur ab und zu; manche der 800 Follower auf Instagram folgen lediglich aus der Ferne. An diesem Mittwoch ist Mira da; vorgestern ist ihr Opa gestorben, und hier ist der Ort, wo sie um ihn trauern kann und von ihm erzählen, wo sonst geht das, sagt sie. Es ist Sebastian gekommen, der ein Problem mit Religion hat, seit er sich mühsam vom Bild des autoritären, strafenden Gottes gelöst hat. Aber hier, sagt er, fühlt er sich mit seiner scheuen, zweifelnden Wiederannäherung ernst genommen. Nach zehn Minuten Stullenkauen geht die Debatte los: Wann beginnt Rassismus? Gibt es Männerverachtung, oder ist das die Ausrede der veränderungsunwilligen Männer? Die Debatte ist so kontrovers wie fair.

Wer dagegen an einem Dienstag im Gebetshaus ist, hat meist eine klare Entscheidung getroffen: Sie oder er ist "Gebetshausmissionar" und widmet sich im Vollzeitberuf dem Gebet. Jeder Missionar muss sich einen Spenderkreis suchen und so sein Gehalt selbst finanzieren. Diskussionen sind weniger vorgesehen. Johannes Hartl plädiert für eine "hot orthodoxy", für "emotional entschiedene und freudige" Glaubensfestigkeit. Im Gebetshaus gehe es um die "persönliche Gottesbeziehung", sagt er; willkommen seien alle Mitbeter. Die Tür zum Haus steht offen. Einmal, nachts, kam ein Mann und saß da bis zum Morgen; dann erzählte er: Er habe sich vor den Zug werfen wollen, der hinter dem Gebetshaus entlang fährt, und dann die offene Tür gefunden. Ein Wunder, sagt Hartl.

"Wir sind ja keine Sonderlinge hier", betont ein 35-Jähriger

Viele der Mitarbeiter stammen aus evangelikalen oder katholisch-charismatischen Gemeinschaften. Anna Gössling, die 32-jährige Pädagogin aus Paderborn, ist evangelisch-freikirchlich geprägt; sie sei "einfach meinem Herz gefolgt" und nach Augsburg gegangen. Ab 18 Uhr wird sie im Gebetsraum singen, beten, Bibelverse lesen, schweigen. Für wie lange? Sie werde da wieder auf ihr Herz hören, sagt sie. Sebastian Lohmer, der 35-jährige Erzieher und Gitarrist, hat dagegen eine Lebensentscheidung getroffen: Er ist seit 2008 dabei und kann hier "meinen Traum leben", wie er sagt - als Christ und Musiker, gemeinsam mit seiner Frau, die Jazz-Sängerin ist, und den beiden Kindern. Er findet im Gebetshaus "Erfüllung, Leben, Sinn, Spaß" - und genug Freiheit fürs Mountainbike und den geliebten Basketball. "Wir sind ja keine Sonderlinge hier", sagt er.

Er sagt das auch gegen den Vorwurf, Johannes Hartl habe eine fromme Sonderwelt geschaffen, intransparent und in polemischer Abgrenzung zu den normalen Gemeinden. Tatsächlich wird Hartl ziemlich harsch, wenn er über die etablierte katholische Kirche redet: zu viel Geld und zu wenig Gebet, Bischöfe, die sich in die Politik einmischen, statt über Gott zu reden. Kritik muss auch das Raumschiff Ruhr aushalten. Eine Pfarrerin mit einer Dreiviertelstelle und eine musizierende Sozialpädagogin, ist das nicht ganz schön viel Aufwand? "Wir sind Pioniere für die gesamte Kirche", sagt Hanna Jacobs, die Pfarrerin. Gerade die jungen Erwachsenen treten aus der Kirche aus, wenn sie in eine andere Stadt ziehen oder erstmals den Kirchensteuerabzug auf dem Gehaltszettel sehen. Und ausgerechnet für die Millennials auf der Suche nach neuen Lebensformen ist das Angebot der Kirchen schlecht. Auch im Gebetshaus Augsburg sind sie die größte Gruppe. Überhaupt eint die Essener Individualisten und die Augsburger Charismatiker mehr, als sie selbst denken.

Die zwei Einrichtungen setzen auf die Beteiligung der Menschen

Zum Beispiel finden beide, dass Religion mit Ästhetik zu tun hat. In Essen haben sie alles aus dem wohnzimmergroßen Raum unter der Kirche verbannt, was an den Inneneinrichtungsmuff der 80er- und 90er-Jahre erinnern könnte; in Augsburg gibt es jährlich eine "Schøn"-Konferenz. Oder dass gut gemachte Musik Menschen besser anspricht, als wenn Autodidakten Gitarren quälen: Im Essener Raumschiff gibt es Konzerte, in Augsburg ein professionelles Musikstudio. Und Raumschiff wie Gebetshaus setzen auf die Beteiligung der Menschen, die kommen: Niemand ist hier nur Gemeindeschaf, das ein religiöses Angebot konsumiert.

"Hier ist mein Lieblingsort", sagt Hartl und öffnet die Tür zur Kapelle. Wo einst Fitnessgeräte schnurrten, ist nun ein dunkler, stiller Raum. Auf halber Höhe schwebt goldschimmernd ein Korpus des Gekreuzigten. "Welch eine Verschwendung", sagt Hartl zufrieden, "ein Raum für nichts als fürs Gebet - fürs Zwecklose." Der goldglänzende Jesus wäre Hanna Jacobs sicher "too much". Das mit dem Ort fürs Zwecklose dürfte sie kaum anders formulieren.

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SZ vom 03.01.2020
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