Süddeutsche Zeitung

Religion:Justiz im Schatten des Kreuzes?

Was spricht für Kreuze in Gerichtssälen, was spricht dagegen - und wie verbreitet ist das Symbol an deutschen Gerichten überhaupt? Antworten auf die wichtigsten Fragen.

Von Markus C. Schulte von Drach

Warum hängen in manchen deutschen Gerichten Kreuze?

In Deutschland sind Staat und Kirche dem Grundgesetz zufolge institutionell getrennt. Es gibt keine Staatskirche. Der Staat ist weltanschaulich neutral. Er ist aber nicht laizistisch.

Das heißt, es herrscht Religionsfreiheit, aber Religion ist nicht nur Privatsache, sondern auch eine öffentliche Angelegenheit: Glaubensgemeinschaften haben das Recht, im öffentlichen Raum aufzutreten, der Staat kooperiert in vielerlei Hinsicht partnerschaftlich mit ihnen. So wird die Kirchensteuer durch die staatlichen Finanzbehörden eingezogen, an Pflichtschulen gibt es Religionsunterricht, dessen Inhalt von den Glaubensgemeinschaften bestimmt wird, und Glaubensvertreter sitzen in den Ethikkommissionen.

Für die Mehrheit ist es normal, dass christliche Symbole und Bezüge zum christlichen Glauben noch immer allgegenwärtig sind. Dazu gehören Kirchen und christliche Feiertage, aber auch Kreuze in öffentlichen Gebäuden.

Ob eine Mehrheit der Deutschen die starke Präsenz der christlichen Symbole heute noch immer für richtig hält, ist allerdings unklar. So haben das Grundgesetz und die Verfassungen von sieben Bundesländern einen Gottesbezug, die der übrigen Länder nicht. Sachsen-Anhalt und Thüringen haben ihn Anfang der 90er Jahre in ihre neuen Verfassungen aufgenommen. In Schleswig-Holstein erreichten Anträge, ihn in die Präambel zu schreiben, 2014 und 2016 nicht die notwendige Zwei-Drittel-Mehrheit.

Zur grundsätzlichen Ausstattung der Gerichte mit einem Kreuz oder anderen religiösen Symbolen gibt es in Deutschland keine Gesetze, Verordnungen oder Richtlinien. Die Entscheidung darüber kann der jeweils verantwortliche Gerichtsleiter fällen.

Neben der Gerichtsleitung können auch Prozessteilnehmer fordern, dass ein Kreuz im Gerichtssaal abgehängt werden muss. Einem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts von 1973 zufolge darf niemand gezwungen werden, "entgegen eigenen religiösen oder weltanschaulichen Überzeugungen unter dem Kreuz einen Rechtsstreit zu führen", wenn dies eine "unzumutbare innere Belastung" darstellt. Ob einer entsprechenden Forderung stattgegeben wird, entscheidet dann der Vorsitzende Richter.

Die Ausstattung von Gerichten ist von Ort zu Ort und von Bundesland zu Bundesland völlig unterschiedlich. Konkrete Zahlen sind lediglich in Ausnahmen verfügbar.

Das Kreuz im Gericht ist für die Befürworter ein Bekenntnis zu den christlich geprägten Grundwerten der Kultur in Deutschland: Es symbolisiert für Christen Mitmenschlichkeit, Nächstenliebe, Toleranz und weitere humanistische und soziale Werte, an die es Menschen auch vor Gericht erinnert. Es solle außerdem deutlich machen, dass Gott über dem Menschen stehe, sagt etwa Bayerns Justizministerin Beate Merk (CSU).

Den Zusammenhang mit der Rechtsprechung erklärt etwa die CDU-Vizevorsitzende Julia Klöckner so: "Das aufgeklärte Christentum und das christliche Bild vom Menschen sind Grundlagen unseres Grundgesetzes, auf dem unsere Rechtsprechung beruht."

Modernes Recht dank Christentum

Manche Befürworter gehen davon aus, dass dieser Einfluss des Christentums auf die Kulturgeschichte unser Rechtssystem überhaupt erst ermöglicht haben soll.

So sagte kürzlich Christian Weyer, Superintendent des evangelischen Kirchenkreises Saar-West, angesichts der Entfernung von Kreuzen aus Gerichten in Saarbrücken: "Das heutige Rechtsverständnis hat sich auch aus der Vorstellung eines barmherzigen, gerechten Gottes heraus entwickelt."

Das Präsidium des Verwaltungsgerichts in Düsseldorf begründete das Aufhängen eines Kreuzes 2010 damit, dass es dort "allein auf die kulturellen Grundlagen unserer Verfassung, auf die Wurzeln, aus denen sich unsere freiheitliche Ordnung speist", verweise.

Die Gegner des Kreuzes im Gericht weisen erstens auf die religiöse und weltanschauliche Neutralität des Staates hin, die im Grundgesetz festgelegt ist. Gerade vor Gericht sollte demnach grundsätzlich nicht die Werteordnung einer bestimmten Religion hervorgehoben werden, indem dort ihre Symbole an der Wand hängen. Schließlich müssen diese Werte nicht deckungsgleich sein mit denen des Staates. Es könnte der Eindruck entstehen, dass die Interpretation der Gesetze möglicherweise durch religiöse Motive beeinflusst oder gar religiös motiviert ist.

Stefan Seib, Präsident des Saarbrücker Amtsgerichts, begründete jüngst das Abhängen der Kreuze in seinem Zuständigkeitsbereich damit, dass das Kreuz ein Symbol für eine Autorität sei, aber eben nicht jene, die für die Rechtsprechung eines staatlichen Gerichts maßgeblich sei.

Zweitens steht das Kreuz den Gegnern zufolge nicht nur für positive Werte. Die christliche Religion sei, wie andere Religionen, über viele Jahrhunderte auch ein Mittel zur Machtausübung und Kontrolle gewesen. Im Zeichen des Kreuzes sei es zu furchtbaren Verbrechen gekommen - Kreuzzüge gegen christliche Ketzer und Nicht-Christen, Inquisition, Hexenverbrennungen, Glaubenskriege, Ausbeutung und Versklavung. Auch dies gehöre zum historischen Erbe, das sich nicht vom Kreuz abtrennen lasse.

Rechtsprechung im Geiste der Aufklärung

Drittens widersprechen die Gegner der Aussage, ohne das Christentum würde es die moderne Rechtsprechung auf der Grundlage der Menschenrechte nicht geben. Der Geist dahinter geht ihnen zufolge auf die Philosophen der Aufklärung wie Locke, Voltaire, Montesquieu, Diderot und viele andere zurück. Von diesen waren zwar etliche Christen und sogar Theologen. Aber ihre Ideen wie die universellen Menschenrechte, die Religionsfreiheit und die Gleichberechtigung mussten sich - und müssen sich mancherorts immer noch - gerade gegen den Widerstand der Führer der christlichen Religionsgemeinschaften durchsetzen.

Darüber hinaus steht das Kreuz immer noch für einen Glauben, der das "göttliche Naturrecht" (Katholiken) oder die "göttliche Inspiration" der Bibel als höchste Autorität (Protestanten) über die von Menschen gemachten Gesetze stellt. Das Kreuz im Gericht könnte als ein entsprechendes Signal verstanden werden.

Missverständlich könnte das Kreuz auch auf Migranten wirken, die aus Regionen stammen, wo Politik und Justiz von religiösen Normen bestimmt werden. Ihnen, so meint etwa der Philosoph Michael Schmidt-Salomon, "wird durch das Abhängen der Kreuze im Gerichtssaal ein Kernprinzip der modernen Rechtsprechung vor Augen geführt, nämlich dass Religionen nicht über dem Gesetz stehen und Menschenrechtsverletzungen auch dann nicht toleriert werden, wenn sie mit jahrtausendealten 'heiligen Werten' begründet werden".

Das Bundesverfassungsgericht hat 1973 entschieden, wenn ein Gebäude oder ein Raum mit einem Kreuz versehen sei, liege der Eindruck nahe, dadurch solle eine enge Verbundenheit mit christlichen Vorstellungen bekundet werden. Die Richter gingen damals aber davon aus, dass auch eine mögliche Identifikation mit spezifisch christlichen Anschauungen von Prozessteilnehmern in der Regel nicht als unzumutbar empfunden werde. "Denn das bloße Vorhandensein eines Kreuzes verlangt von ihnen weder eine eigene Identifizierung mit den darin symbolhaft verkörperten Ideen oder Institutionen noch ein irgendwie geartetes aktives Verhalten."

Würde aber jemand gezwungen, einen Rechtsstreit entgegen eigenen religiösen oder weltanschaulichen Überzeugungen "unter dem Kreuz" zu führen, könnt dies dessen Grundrecht auf Glaubens- und Bekenntnisfreiheit verletzen. Die Entscheidung, dass in diesem Fall das Kreuz abgehängt werden müsste, betrachtete das Bundesverfassungsgericht als Maßnahme des Minderheitenschutzes.

Vor einer grundsätzlichen Entscheidung darüber, ob die Ausstattung von Gerichtssälen mit Kreuzen grundsätzlich verfassungswidrig ist, sahen die Richter damals ab. Grund: Umfang und Tragweite einer solchen Prüfung stünden in keinem vertretbaren Verhältnis zu der Bedeutung des hier zu entscheidenden Falles.

Parallele zum Kreuz in Schulräumen

1995 widersprach dann das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss zum Kreuz in Schulräumen klar dem Argument, es könnte heute auch als lediglich kulturelles Symbol betrachtet werden:

Das Kreuz "symbolisiert den wesentlichen Kern der christlichen Glaubensüberzeugung, die zwar insbesondere die westliche Welt in vielfacher Weise geformt hat, aber keineswegs von allen Gesellschaftsgliedern geteilt, sondern von vielen in Ausübung ihres Grundrechts aus Art. 4 Abs. 1 GG abgelehnt wird."

Fazit damals: Die Anbringung von Kreuzen in der staatlichen Pflichtschule "ist daher mit Art. 4 Abs. 1 GG unvereinbar, soweit es sich nicht um christliche Bekenntnisschulen handelt".

Der Bayerische Verfassungsgerichtshof unterlief diese Entscheidung mit einem eigenen Beschluss, demzufolge das Kreuz ein Symbol sei, das einerseits religiös als zentrales Symbol des christlichen Glaubens gesehen werden könne. "Es kann aber auch als ein rein säkulares Symbol aufgefasst werden, nämlich als überkonfessioneller Ausdruck der vom Christentum maßgeblich geprägten Werte und Normen der abendländischen Kultur und Tradition."

Kreuze in Gerichten und Schulräumen müssen nun - wenn vorhanden - nur abgehängt werden, wenn es eine ausreichend begründete Beschwerde gibt.

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