Religion:Deutsche Exoten am Bosporus

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Der evangelischen Gemeinde in Istanbul geht der Nachwuchs aus.

Von Christiane Schlötzer

Sie waren oft monatelang unterwegs, zu Fuß. Und wenn sie dann ankamen, nach dem Weg über den Balkan, wo sie niemand haben wollte, waren viele krank, fast verhungert. Sie waren Wirtschaftsflüchtlinge, ihr Ziel war Istanbul. Konstantinopel nannten die meisten Deutschen die Stadt damals noch, sie hofften dort auf Arbeit, ein besseres Leben. "Da verlief die Migrationsbewegung andersherum", sagt Gabriele Pace, und ihre Stimme hallt ein bisschen nach in den alten Räumen der Istanbuler Kreuzkirche.

Pace ist die Pfarrerin der "Evangelischen Gemeinde deutscher Sprache in der Türkei". Das ist die älteste deutsche Institution in Istanbul, am Wochenende feierte sie ihr 175-jähriges Bestehen. Pace erzählt: "In Europa gab es damals große Hungersnöte", und diejenigen, die es nicht nach Amerika schafften, "gingen auf Fußauswanderung" nach Osten, ins Reich der Osmanen. Viele Handwerker waren darunter, auch Arbeiter. Als drei dieser Deutschen obdachlos auf einer Straße gestorben waren, schlossen sich ein paar andere zusammen, schufen 1844 eine kleine Krankenstation. Schon davor war durchreisenden Missionaren - auf dem Weg in den Kaukasus - aufgefallen, dass die meist "alleinstehenden Deutschen" am Bosporus "mancher Versuchung ausgesetzt und erlegen" waren. Ein "völliger Mangel an religiöser Erbauung" wurde beklagt. Dem sollte die 1843 gegründete protestantische Gemeinde abhelfen. Initiator war ein Pastor aus Stuttgart, der schon die halbe Welt bereist hatte.

Pace, 60, hatte auch einiges hinter sich, als sie im August 2017 aus München nach Istanbul zog. Zehn Jahre lang war sie Gefängnispfarrerin in Stadelheim, und genauso lang Seelsorgerin am Flughafen München. "Das ist ein Hochleistungsbetrieb." Die Betreuung von Abschiebehäftlingen war Teil ihres Jobs. Den Posten in der Türkei hat sie sich gewünscht, sie kannte das Land und empfand "Respekt vor der türkischen Kultur".

Seit dem Putschversuch von 2016 und den Spannungen zwischen Ankara und Berlin kommen nur noch wenige Deutsche mit Familien nach Istanbul. "Das ist sehr auffällig", sagt Pace. In ihrem Schrank lagern Gottesdienst-Utensilien für 40 Kinder; nun hat sie aber nur vier Konfirmanden, die Gemeinde bloß 100 Mitglieder. Die müssen fast alle Kosten selbst tragen, von der Altarkerze bis zum Salz in der Küche, auch Paces Gehalt. Sie schaffen es noch, "irgendwie", sagt die Pfarrerin. Die Kirche liegt mitten in einem der ärmsten Viertel, viele Kurden, Roma, Flüchtlinge leben hier. Teile des Quartiers werden gerade gentrifiziert. Die Kirche, 1861 erbaut, ragt heraus. Es gibt keine Wachen an der Pforte, wie sonst vor jeder besseren Villa. "Die türkische Nachbarschaft passt auf uns auf", sagte Pace. "Wir läuten auch unsere Glocke zum Gottesdienst." Nur ein paar Schritte entfernt liegt eine Moschee.

Wenn sie Misstrauen spürt, dann außerhalb ihres Viertels, "gelegentlich bei Taxifahrern", wenn die über die deutsche Politik schimpfen. "Dann diskutiere ich mit." Sie sagt, "ich will Präsenz zeigen". Und sonst? "Eher Erstaunen, dass Deutsche da sind, das Land schätzen." Es wirkt, als habe sich an der Verwunderung über die Zuwanderer in 175 Jahren nicht viel geändert.

© SZ vom 29.10.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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