Religion:"Alternative Fakten" für die Gläubigen

Donald Trump Delivers Convocation At Liberty University

Januar 2016: Auf einem Wahlkampfauftritt von Donald Trump stimmen Studenten der evangelikalen Liberty University im US-Bundesstaat Virginia christliche Heilsgesänge an.

(Foto: AFP)

Die unkritische Auslegung der Bibel hat weltweit Konjunktur, das wirkt sich auf Politik und Gesellschaft aus: Trump wird mit einem biblischen Führer verglichen, deutsche Protestanten setzen im Reformationsjahr auf Kitsch.

Von Martin Urban

Vor 500 Jahren sah Martin Luther als Ursache seiner chronischen Darmverstopfungen das Wirken des Teufels. Heute, so berichtete unlängst die ARD, lässt in einer evangelikalen Gemeinde in Johannesburg (Südafrika) der Pfarrer Sipho Mphakathi seine Gemeindemitglieder den WC-Reiniger von Domestos trinken, um auf diese Weise böse Geister auszutreiben.

"Böse Geister sind Realitäten", sagt auch der deutsche Evangelikale Peter Wenz in Stuttgart, Pastor der ersten "Mega-Church" in Deutschland nach amerikanischem Vorbild - und praktizierender Wunderheiler.

Archaische Vorstellungen haben Konjunktur. Und auch der unkritische Hinweis auf wörtlich genommene Bibeltexte beeinflusst zunehmend die Politik der Gegenwart. Es geht nicht nur um den innerkirchlichen Kampf etwa gegen gleichgeschlechtliche Partnerschaften im evangelischen Pfarrhaus, sondern auch gegen modernen Biologieunterricht, gegen Flüchtlinge - Letzteres ausgerechnet von "russlanddeutschen" Evangelikalen -, oder die von Extremisten unter den Sektierern praktizierte angeblich gottgewollte Prügelstrafe für Kinder.

Wieder stellt sich die Frage: Was ist Wahrheit?

Anti-Intellektualität und Demokratiefeindlichkeit werden etwa von Jaroslaw Kaczyński in Polen oder von Viktor Orban in Ungarn fundamentalistisch-religiös begründet. Die britische Evangelische Allianz, die dortige Repräsentanz der Fundamentalisten, nennt den Brexit eine "große Chance". Und seit Donald Trump 2016 in die Weltgeschichte eingetreten ist - von über 80 Prozent der US-Evangelikalen gewählt -, stellt sich, wie lange nicht mehr, erneut die Frage des Pontius Pilatus vor 2000 Jahren: "Was ist Wahrheit?" (Joh. 18,38). Und was sind dagegen "Fake News"?

Neu ist es nicht, das neuerdings so beliebte "Post-Faktische". Die nachträgliche Umdeutung von Fakten aus aktuellem Interesse war vielmehr bereits eine von den Autoren der biblischen Bücher praktizierte Methode. Schriften des Alten Testaments wurden nämlich von ihren Verfassern "aus einem zeitlichen Abstand zu den erzählten Ereignissen mit einem klaren Gegenwartsinteresse komponiert", sagt etwa der protestantische Theologe Markus Witte von der Berliner Humboldt-Universität.

Und ebenfalls mit einem klaren Gegenwartsinteresse werden diese nun wieder politisch genutzt. Aktuelles Beispiel: das Buch Nehemia des Alten Testaments.

Darauf hat der evangelikale Pfarrer Robert Jeffress von den südlichen Baptisten in seiner Predigt bei der Inthronisationsfeier für Donald Trump zurückgegriffen: Seinerzeit habe Nehemia, Statthalter von Juda, eine Mauer um Jerusalem wieder aufgebaut, um die Bürger zu schützen. Heute wolle ein anderer "großer Führer", nämlich Trump, eine Mauer entlang der Grenze zu Mexiko errichten, ebenfalls um die Bürger zu schützen, so der Prediger, der dies so quasi als gottgewollt verkündete.

Der Ober-Evangelikale der USA, Franklin Graham, Sohn des noch berühmteren Billy Graham, behauptete sogar, bei der Wahl zum US-Präsidenten "hatte Gott seine Hand im Spiel". Die Frage drängt sich auf: Wenn Gott hier - wie der Bibel zufolge früher auch schon - unmittelbar eingegriffen hat, wo ist dann SEINE Hand in Syrien oder im Irak geblieben?

Nun lernt zwar jeder an einer staatlichen Universität in Deutschland ausgebildete protestantische Theologie-Student, dass die Bibel nicht wörtlich zu verstehen ist, und es seriöser theologischer Wissenschaft nicht darum geht, so etwas wie eine "präreflexive religiöse Ergriffenheit" zu vermitteln, sondern vielmehr Erkenntnis.

Doch viele Pfarrer vergessen offensichtlich auf der Kanzel das im Studium Gelernte rasch wieder. Haben sie Angst, dass nicht mehr genug übrig bliebe, wenn sie mit den Gemeindemitgliedern den "Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit" (Immanuel Kant) wagen würden?

Nicht die Frommen, sondern Wissenschaftler folgen Luthers Tradition

Dabei hat bereits Martin Luther schon den Samen für eine frühe Aufklärung gelegt. Er drängte etwa darauf, kommunale Schulen einzurichten und motivierte die Gläubigen, nicht nur zu glauben, was der Papst sagt, sondern selbst die Bibel zu lesen.

Doch heute sind es nicht die Frommen, sondern Wissenschaftler, die die Tradition fortsetzen, zu prüfen und zu hinterfragen. Der Gehirnforscher Wolf Singer etwa sieht es gar als "moralische Verpflichtung, wissen zu wollen". Der Mensch habe die "Pflicht, sich zu informieren", wie er bei einem Vortrag in München im Februar sagte. Auf der Jahrestagung der AAAS, der größten Vereinigung von Forschern in den USA, wurden kürzlich 2017 Anstecker ausgegeben mit der Aufforderung "Ask for evidence" - Frag nach Belegen.

"Zu Fakten gibt es keine Alternative" war jüngst ein Motto der weltweiten "Märsche für die Wissenschaft". Von den Kirchen der Reformation hat man freilich dazu nichts gehört. Dabei ist die Suche nach Belegen auch für die Geisteswissenschaften nichts Neues.

Das versucht die historische und philologische Forschung schon seit dem 19. Jahrhundert. Es geht ihr darum, die Heiligen Schriften im historischen Kontext zu verstehen und unter anderem auch uralte und doch virulent gebliebene falsche Überzeugungen zu identifizieren. Bereits der protestantische Theologe Adolf von Harnack, Gründer und Präsident der damaligen Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (heute Max-Planck-Gesellschaft), hatte vor 125 Jahren darauf hingewiesen, dass zum Beispiel das christliche Glaubensbekenntnis kein Beleg für das Wirken des Heiligen Geistes sei, sondern ein "Produkt des griechischen Geistes auf dem Boden des Evangeliums".

Der Nutzen eines schlichten Weltbildes

Das freilich mögen die christlichen Fundamentalisten nicht hören, für die die "Irrtumslosigkeit der Bibel" eines der Essentials ihres Glaubens ist. Der Begriff kommt ursprünglich aus den USA, wo in den Jahren 1910 bis 1915 als Abwehrreaktion konservativer Protestanten auf die Erkenntnisse der Historiker die Schriftenreihe "The Fundamentals" erschien.

Mittlerweile machen solche Strenggläubigen weltweit die Mehrheit der christlichen Gläubigen in allen Konfessionen aus. Die Anzahl der protestantischen Fundamentalisten, der Evangelikalen, nimmt vor allem in der Dritten Welt besonders stark zu, berichtet das Magazin der Evangelischen Allianz in Deutschland, idea: Am stärksten wächst sie in Afrika (jährlich um 3,6 Prozent) vor Asien (drei Prozent) und Lateinamerika (2,6 Prozent). Mittlerweile sind weltweit schätzungsweise etwa 550 der mehr als 800 Millionen evangelischen Christen Evangelikale.

Im deutschsprachigen Raum ist das ideologische Werkzeug für viele evangelische und sich selbst nicht als evangelikal verstehende Kirchenleitungen die Dogmatik von Karl Barth geblieben. Der protestantische Theologe aus der Schweiz hat schon vor bald hundert Jahren eine "postfaktische" Ideologie propagiert, die "nachkritische Schriftauslegung". Es war die konservative Antwort auf die zuvor entstandene "historisch-kritische Theologie".

"Ohne jeden Irrtum"

Den Katholiken, die größte christliche Religionsgemeinschaft, bestätigte ihr 1992 von Papst Johannes Paul II. approbierter "Weltkatechismus" pauschal, dass die Heilige Schrift die Wahrheit lehre, "weil Gott selbst ihr Urheber ist: Die Heilige Schrift wird darum als inspiriert bezeichnet und lehrt ohne Irrtum jene Wahrheiten, die zu unserem Heil notwendig sind."

Der "postfaktische" Ansatz führt dazu, dass heute besonders unter den russischen Orthodoxen, den polnischen Katholiken oder den deutschen Evangelikalen die Homophobie ein biblisch begründetes Markenzeichen der Fundamentalisten ist. Die Evangelikalen vor allem in den USA bestreiten insbesondere die wissenschaftlich erwiesenen Tatsachen der Evolution und des menschengemachten Klimawandels. Die Erkenntnisse der Wissenschaften betrachten sie alle als Ergebnisse des Zeitgeistes.

Dementsprechend verschließen sie auch vor den Erkenntnissen der Hirnforscher die Augen, die ihnen erklären könnten, warum Menschen heute noch von abergläubischen Vorstellungen geprägt sind: Zehn Prozent unseres Weltbildes beruhen nach neurologischem Wissen auf dem, was unsere Augen sehen, 90 Prozent jedoch sind Deutungen dessen, was wir zu sehen glauben.

Das gibt dem Homo sapiens einerseits die Fähigkeit, die Welt und die Naturgesetze zu entdecken, zu verstehen und zu interpretieren. Anderseits ist es Ursache dafür, archaische Glaubensvorstellungen zu hegen und zu pflegen.

Loyalität gegenüber Gruppen, nicht gegenüber Fakten

Seit Kurzen versuchen Wissenschaftler zu ergründen, warum so viele Menschen nicht glauben, was sie doch eigentlich wissen. "Wir geben damit der Loyalität gegenüber unserer sozialen Gruppe den Vorzug vor unserer Loyalität gegenüber den Fakten." So Klaus Oberauer vom Psychologischen Institut der Universität Zürich kürzlich in der NZZ am Sonntag. Die Frage ist allerdings bisher unbeantwortet, warum das so ist.

Für die großen fundamentalistischen christlichen Gruppen kommt hinzu, dass ein schlichtes Weltbild der Mitglieder auch geschäftlich von Nutzen ist. Die Reinigung des Körpers von bösen Geistern gibt es auch in den extremen Fällen ja nicht umsonst - für die Behandlung mit Domestos etwa werden zumindest Spenden erwartet.

Folklore statt Aufklärung

In Deutschland geht zwar niemand so weit, aber im Jubiläumsjahr der Reformation ist hierzulande vorzugsweise "Volkstümlichkeit" und nicht etwa Aufklärung angesagt. Und während vor 500 Jahren die Schriften Martin Luthers Bilder und Graphiken eines Lucas Cranach (des Älteren) zierten, sind heute für das Reformations-Marketing die peinlichsten Einfälle gerade Recht.

Dazu gehört etwa eine besondere Schutzhülle für die neue Lutherbibel 2017, die es nicht nur in einer Version gibt, die der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Heinrich Bedford-Strohm, editiert hat. Es gibt auch "Sondereditionen" der Hülle etwa von Fußballtrainer Jürgen Klopp oder der Schauspielerin Uschi Glas - Prominente, die bisher nicht unbedingt als Experten für Theologie gelten.

Den Verkauf von Luther-Playmobilfiguren, Luther-Tomaten und Luther-Nudeln konnte die "Jugendkirche" der Evangelischen Kirche im Rheinland sogar noch toppen. Durch Gratis-Kondome mit "passenden" Luther-Sprüchen, wie: "Hier stehe ich, ich kann nicht anders". Den ganzen Kitsch rechtfertigte der EKD-Kulturbeauftragte Johann Hinrich Claussen vergangenes Jahr im Magazin chrismon: "Kitsch kann auch eine populäre Gestalt der Liebe sein."

Martin Luther als Playmobil-Figur

Spielzeug-Luther von Playmobil

(Foto: dpa)

Die schlichte Weise einer Popularisierung der Reformation kann man wohl als beispielhaft für die "Entintellektualisierung" der Kirchen verstehen, die der angesehene Münchner protestantische Theologe Friedrich Wilhelm Graf schon lange in beiden großen christlichen Konfessionen beklagt. Gewichtiger als der Kommerz ist natürlich jedwedes Fehlen einer systematischen Auseinandersetzung mit den teils bis heute übernommenen mittelalterlichen und antiken Weltbildern, von denen auch Luther natürlich nicht frei war. Man denke nur an seinen Antijudaismus.

Dass Fundamentalisten in allen Religionen an "Post-Faktischen" Glaubensvorstellungen festhalten, liegt übrigens nicht an einer mangelnden Begabung von Populationen des Homo sapiens, Deutungen zu hinterfragen: "Die falschen Überzeugungen anderer zu erkennen, ist ein entscheidender Meilenstein der menschlichen kognitiven Entwicklung", meldete vor einiger Zeit die Max-Planck-Gesellschaft. "Menschen entwickeln diese Fähigkeit noch vor ihrem fünften Geburtstag." Neue Forschungen an Menschenaffen belegten, dass sogar unsere nächsten Verwandten erkennen könnten, wenn etwas nur im Kopf ihres Gegenübers existiere.

Doch dieses Talent vergraben offenbar viele Gläubige, ähnlich wie im biblischen Gleichnis der Knecht den ihm anvertrauten Zentner Silber (Math. 25.14-30). Nach wie vor gilt selbst für die Kirchen der Aufklärung: "Sie glauben nicht, was sie wissen."

Martin Urban ist Gründer und jahrzehntelanger Leiter der SZ-Wissenschaftsredaktion. Zuletzt ist von ihm das Buch erschienen: "Ach Gott, die Kirche! Protestantischer Fundamentalismus und 500 Jahre Reformation", dtv premium, 2016

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