SZ: Herr Hizarci, die Debatte um religiöses Mobbing an einer Grundschule in Berlin erweckt den Eindruck, als würde so etwas ständig geschehen. Ein Schüler hat im drohenden Ton "Jude, Jude" zu einer Zweitklässlerin gesagt. Schon zuvor wurde das Mädchen bedroht. Ein Einzelfall?
Dervis Hizarci: Es ist ein einzelner Fall, aber wir haben in den letzten zwölf Monaten von mindestens zwei weiteren solchen Fällen in Berlin gehört. Außerdem wissen wir von dem Direktor der jüdischen Oberschule, dass etwa acht Schüler pro Schuljahr nach antisemitischem Mobbing ihre Schule verlassen und auf das jüdische Gymnasium wechseln. Die Dunkelziffer können wir nur schätzen, wir gehen von jährlich ein bis zwei Dutzend Fällen aus. In Relation zu mehr als 300 000 Schülern in Berlin ist das wenig und trotzdem zu viel.
Sie befassen sich seit 2005 mit antisemitischen Übergriffen an Schulen. Sind es seitdem mehr geworden?
Ich habe keinen generellen Anstieg festgestellt. Aber wir sehen punktuelle Anstiege nach bestimmten Anlässen, einer Zuspitzung in Nahost etwa, einer Erdoğan-Rede, einer Entscheidung aus Washington. Da kochen die Dinge hoch, und das merkt man dann auch bei den Schülern.
Heißt das, politische Gründe spielen eine größere Rolle als religiöse?
Das ist sogar fast immer so. Nur können Kinder das noch nicht unterscheiden. Zumal sie ja oft so angesprochen werden: Ihr seid doch Muslime, wie seht ihr das denn? Dann erzählen sie, sprechen aber nur von politischen Dingen. Der Eindruck eines religiösen Bezugs ist rein situativ bedingt.
Aber man hört immer wieder, muslimische Schüler würden ihre Religion generell sehr stark in den Schulalltag tragen.
Der Elternsprecherverband, die Mehrzahl der Schulleiter und auch wir beobachten nicht, dass das Klima in Klassen generell religiös aufgeladen ist. Kinder, die aufgrund ihrer Religiosität den Unterricht erschweren, weil sie den Lehrer ablehnen oder Mitschüler mobben, gibt es nur ganz selten.
Wie reagieren Sie als Lehrer, wenn ein Schüler zum anderen "Du Jude" sagt?
Den halte ich sofort an und frage ihn: Was hast du gerade gesagt? Meistens antwortet der Schüler: Ich hab gar nichts gesagt. Dann ich: Du hast doch soeben 'Jude' gesagt. Warum denn? Er: Ich hab das nur so gesagt, ist doch okay jetzt. Ich: Nein, ist nicht okay. Was sollte das? Er: Ich wollte ihn ärgern. Ich: Was ärgert denn daran? Er: Na, Knecht halt. Ich: Wie, Knecht? Er: Na, dass er nichts ist. Ich: Was ist er nicht? Schon nach ein paar Sekunden wird es eng für den Schüler in unserm Gespräch. Aber ich rede auch mit den Eltern beider Schüler und mit der Klasse. Dafür muss ich kein Antisemitismus-Experte sein, das sollte man von jedem Lehrer erwarten können.
Und wenn nicht, wenn die Schule ratlos ist, dann wird Ihre Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus gerufen.
Ja, und dann hören wir uns von den Schülern noch mal alles ganz genau an: Was wird erzählt, was ist die Quelle? Ist es dummes Nachgeplappere, wenn ja, woher? Sind es Vorurteile aufgrund von Erlebnissen, etwa der Fluchtgeschichte der Eltern? Oder sind es gefestigte Weltbilder, im Sinne von: Der Jude ist das Böse. Je nachdem wählen wir die Interventionsstrategien.
Was kommt dann?
Unsere Workshops sind meist mehrtägig, da passiert eine Menge. Etwa, dass die Kids feststellen, was Juden und Muslime verbindet: Beide haben einen nicht sichtbaren Gott, essen kein Schweinefleisch, praktizieren die Vorhautbeschneidung. Beide Gruppen sind vielfältig: Ich bin ein Moslem aus Palästina, du einer aus Bosnien, meine Mutter trägt ein Kopftuch, deine nicht. Und dieselbe Vielfalt hat das Judentum, es gibt nicht den Ju den. Mit solchen Erkenntnissen lassen sich Brücken bauen.
Welche Haltung prägt Ihre Arbeit?
Die Überzeugung, dass man Kinder und Jugendliche nur erreicht, wenn man sie ernst nimmt und aktiv miteinbezieht. Wir verurteilen und bestrafen nicht, sondern schärfen ihr Bewusstsein für das, was sie tun.
Wieso nicht auch an Grundschulen?
Weil der Vorfall bei so jungen Schülern hier in Berlin etwas Neues ist. Wir müssen jetzt überlegen, ob wir auch in Grundschulen gehen.