Rekordtemperaturen:Mehr Licht

Dehydrierung, Hitzschlag, Malaria-Tote: von Idylle keine Spur, wenn vom Sommer die Rede ist. Doch man kann die hellste Jahreszeit auch genießen, ohne die Folgen des Klimawandels kleinzureden.

Von Werner Bartens

Der flirrende Staub über dem Weizenfeld. Das Eis, das sich viel zu schnell verflüssigt und die Waffel hinunterrinnt. Die bronze-gebräunten Alten, die ihre Reptilienhaut würdevoll in den weißen Plastikstühlen am Freibadkiosk zur Schau stellen und ihr drittes Bier ordern. Und erst recht diese endlos ausgedehnte Trägheit, die Feier des Müßiggangs. "Wenn die Welt dann wieder breit ist, satt und ungeheuer fett", hat Konstantin Wecker den Sommer einst angeschmachtet. All diese Üppigkeit, diese betörend schwüle Gelassenheit, das wird bald nur noch ein Fall für die Literaturwissenschaft sein. Als "Locus amoenus", als lieblichen Ort, werden Germanisten die Feier des Sommers wissenschaftlich auseinandernehmen. Sie werden die Liebeserklärung an die prallste Jahreszeit als literarisches Stilmittel aus einer vergangenen Epoche abheften, als eine unzeitgemäße Schwärmerei, ähnlich den arkadischen Schäferdichtungen aus früheren Jahrhunderten - von großer Anmut zwar, aber doch schon befremdlich fern.

Von Idylle ist schließlich schon lange keine Spur mehr, wenn vom Sommer die Rede ist. Um die hellste Jahreszeit ist es düster bestellt. Zu dominant sind berechtigte Warnungen und quälende Unkenrufe - das Wetter, das Klima, die Hitzetoten. Wer kann schon noch unbeschwert die sich behaglich aufwärmende Haut im Liegestuhl oder in der Hängematte genießen, wenn die Meldungen über ohnmächtig gewordene Hitzeopfer, ausgetrocknete Senioren und im Auto vergessene Haustiere nicht mehr zu ignorieren sind?

Die WHO warnt vor 250 000 zusätzlichen Hitzetoten - pro Jahr

In diesem Zusammenhang muss unbedingt Wilhelm Genazino zitiert werden. In seinem Roman "Die Liebesblödigkeit" hat der kauzige Schriftsteller schon 2005 als Hauptfigur einen "freischaffenden Apokalypse-Redner" eingeführt. Von gediegenen Schweizer Hotels aus bietet dieser szenische Rundgänge in der Natur an, in denen er seinem zahlenden Publikum Weltuntergänge ausmalt. Als seine gelegentlichen Bekannten tauchen immer wieder der Postfeind, der Ekelreferent und der Panikberater auf, auch das unbedingt Berufe mit Zukunft, wenn sie denn den digitalen Wandel bewerkstelligen.

42,6 Grad Celsius

Das ist der neue absolute Temperaturrekord in Deutschland, gemessen am Donnerstag an der Wetterwarte in Lingen. Allerdings gibt es Zweifel, ob die Messung den strengen Regeln des Deutschen Wetterdiensts (DWD) standhält. Schon vor fünf Jahren berichtete die Neue Osnabrücker Zeitung über Pläne des DWD, die Messstelle wegen verfälschter Ergebnisse ins benachbarte Baccum zu verlegen. Das ist aber offenkundig seither nicht geschehen. Der DWD unterhält zur Wetterbeobachtung in Deutschland mehr als 180 größere Wetterwarten wie in Lingen und fast 1750 kleinere Wetterstationen. SZ

Im Werk Genazinos, der 2018 gestorben ist, geht es hauptsächlich um die Frage, ob die Hauptfigur nicht zwei Frauen gleichzeitig lieben kann - die meisten Menschen seien ja schließlich auch in der Lage, beide Eltern zu lieben, ohne sich zwischen ihnen entscheiden zu müssen. Womit wir wieder beim Sommer wären. Ist es nicht vielleicht auch möglich, den Sommer weiterhin in seiner ebenso lässigen wie prallen Aufdringlichkeit zu lieben und trotzdem die hitzebedingten Gesundheitsgefahren, die Klimakrise - inklusive aller Temperaturrekorde und Extremwetterlagen - keineswegs zu verniedlichen? Braucht es gar bald so etwas wie einen Rettungsanker für den europäischen Sommer, eine geballte Ladung mentaler Care-Pakete, garantiert ohne Moralin, dafür unbedingt mit Tiroler Nussöl?

Andere Frage: Ist das überhaupt noch möglich? Oder steht das ehedem Sunkist-gleich strahlende Begriffsdreieck aus Sonne, Sommer und Hitze nicht von vornherein unter Generalverdacht und bekommt nur noch Ausgang, wenn es die passenden Horror-Attribute dabeihat? Statt heiterer Hymnen auf lauschige Nächte, luftige Kleidung und lässige Arschbomben geht es seit Jahren in den einschlägigen Berichten zum Sommer ja nur noch um die besten Tipps zum cleveren Lüften, zur dosierten Bewegung während der richtigen Tageszeit und einer ausreichenden Trinkmenge, wenn die Quecksilbersäule mal wieder über die 32-Grad-Marke steigen sollte - und sich ein paar bisher zu Recht verkannte Gemeinden um den neuesten Temperaturrekord streiten.

Sommerwetter in München

Drei Tage Rekordwerte hintereinander: Da hilft nur ein kühlendes Bad wie hier im Eisbach in Münchens Englischem Garten.

(Foto: Peter Kneffel/dpa)

Lüften? Es ist noch nicht so lange her, da war das potenziell gefährlich, man bekam davon "Zug", und Trinken galt als ehrlich gieriger Genuss und nicht als exakt abzumessende Tauschhandlung gegen drohende Dehydratation. Aber diese Zeiten sind vorbei, hinweggeframt von negativen Assoziationen und bedrohlichen Szenarien. Und die zielen nicht nur auf das Freibad um die Ecke, sondern prallen mit voller Wucht auf den verschreckten Sonnenanbeter - und zwar nach dem Motto: international, global, katastrophal.

Vor Kurzem erst hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) vorgerechnet, dass in den Jahren 2030 bis 2050 mit ungefähr 250 000 zusätzlichen Todesfällen durch die Erderwärmung zu rechnen sei. Nicht in dem genannten Zeitraum über zwei Dekaden, sondern in jedem Jahr. Dazu gehören die sogenannten nicht übertragbaren Leiden wie Herzinfarkt, Kreislaufversagen, Niereninsuffizienz, Hitzschlag. Eine Ahnung davon konnte man schon während der großspurig immer noch als "Jahrhundertsommer" titulierten Hitzephase 2003 bekommen, in der es zwischen 22 000 und 50 000 Todesopfer gab, je nach Schätzung. Aber auch die übertragbaren Krankheiten werden sich ausbreiten und häufiger vorkommen - ebenso wie die Insekten und anderes Getier, das sie überträgt. Malaria, etliche Infektionskrankheiten und schwere Durchfall-Leiden werden jene Zonen erobern, die sich bisher sicher wähnten, weil sie als "gemäßigt" galten.

Zwischen Hiobsbotschaften und der Sehnsucht nach lauen Sommerabenden

Angefangen hatte es ja mit vermeintlich marginalen Veränderungen. Seit Jahren schon beginnt die Blühperiode der Pflanzen immer früher und hört später auf. In der Folge ist die Pollenbelastung gestiegen; Allergikern wird künftig noch häufiger die Luft wegbleiben. Die Zecken krabbeln früher durchs Unterholz, sie werden größer, die Natur wandelt sich vom reinigenden Rückzugsort zur permanenten Bedrohung. Und klar, im Sommer ist es besonders schlimm. Zur Abkühlung in den See, abends schnell zum Badengehen? Dort drohen wahlweise Blaualgen oder Fäkalkeime, das ist alles kein Spaß mehr.

Sommerhitze - Hamburg

Auch im Norden Deutschlands näherten sich die Temperaturen Rekordwerten an - Badespaß in der Elbe am Rande des Hamburger Hafens.

(Foto: Bodo Marks/dpa)

Kann es angesichts solcher Hiobsbotschaften legitim sein, wehmütig an die nicht enden wollenden Sommertage zurückzudenken, an denen es auch um elf Uhr abends immer noch ein bisschen hell blieb? Ein lichtblauer Streifen am Horizont zeigte das an. Das war eindeutig Tag und noch nicht Nacht, jedes empfindsame norddeutsche Herz weiß das, auch wenn diese weißen Nächte im um diese Uhrzeit finsteren Oberbayern gern für eine Erfindung aus St. Petersburg oder vom Nordkap gehalten werden.

Und frischen Schweiß, kurz nach der Produktion übrigens geruchlos, darf man den noch gut oder betörend gar finden? "Nur deinen Schweiß, die kleinen Perlen, die gib' bitte niemand her", sang Klaus Lage, ein Norddeutscher, noch zu Beginn der 1980er-Jahre. Heute gilt die Menge der Schweißperlen längst als Indikator für drohenden Elektrolytverlust, nicht als Zeichen von Lust. Kaum zu glauben, dass sich die Mannsbilder vom Volk der Bajuwaren zumindest im ländlichen Raum bis in die 1950er-, 1960er-Jahre noch nach hitzigem Tanz auf Volksfesten ein Tuch unter der schweißnassen Achsel durchzogen. Sie wirbelten anschließend damit herum und machten ordentlich Wind, damit die anwesenden Damen erschnuppern konnten, ob sie - Interesse vorausgesetzt - den Kerl überhaupt riechen mochten.

Kann man etwas gegen den Klimawandel tun - und sich über den Sommer freuen?

Der Sommer ist nicht mehr das, was er mal war, auch wenn an der Resterampe der Erinnerung noch ein paar Bilder auftauchen, die davon künden, dass es auch wieder anders sein könnte. Inzwischen wird uns der Sommer mit Warnhinweisen und Verbotsschildern präsentiert, wie von einer übervorsorglichen Nanny. Als Nebenwirkung erinnert eine PR-Agentur mit dem hitzeirren Namen "Dialog Natürliches Mineralwasser" daran, genügend zu trinken, Krankenkassen geben sachdienliche Hinweise zum Aufenthalt in der Hitze.

Nein, so haben wir uns das nicht vorgestellt mit dem Sommer, damals, als wir uns nach stundenlangem Barfußlaufen die Holzspreißel aus der Sohle pulten. Dabei geht doch beides, die Klimakrise ernst nehmen und auch etwas dagegen tun - und trotzdem heiter die Frage umarmen, ob man auch dann ein Schirmchen im Cocktail braucht, wenn man unter einem Sonnenschirm sitzt. Genazino, der Kauz, sieht in der gezielten Zweigleisigkeit "eine wunderbare Doppelverankerung in der Welt" und eine "bedeutsame Vertiefung aller Lebensbelange". Kann man eigentlich mehr wollen?

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