Reinhold Messner im Gespräch:"Ein Deutscher soll nicht nur deutsch denken"

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"Im Krieg ist leider wenig illegal und Gebietsverluste schon gar nicht." - Reinhold Messner (Foto: DERKEVIN.COM // Kevin McElvaney)

Bergsteiger Reinhold Messner fordert mehr Empathie für die Griechen, schildert den trickreichen Kampf der Südtiroler im Ersten Weltkrieg - und erklärt, warum er in seiner Heimat zeitweilig um sein Leben fürchten musste.

Interview von Oliver Das Gupta, Schloss Juval

Reinhold Messner kam 1944 in Brixen zur Welt. Der Südtiroler ist einer der bekanntesten Bergsteiger. Er stellte zahlreiche Rekorde auf, unter anderem bestieg er als Erster den Mount Everest ohne zusätzlichen Sauerstoff aus der Flasche, später erklomm er auf dieselbe Weise als erster Mensch alle Achttausender. Messner schreibt Bücher, hält Vorträge und saß eine Legislaturperiode von 1999 bis 2004 als Parteiloser für die Grünen im Europaparlament.

Er gründete das Messner Mountain Museum an sechs verschiedenen Standorten in den Alpen, das jüngste eröffnete er erst im Juli auf dem Gipfelplateau des Kronplatzes in mehr als 2200 Meter Höhe.

Das erste seiner Museen befindet sich in der Burg Juval oberhalb von Naturns. Messner kaufte den Standort als Ruine und restaurierte die Anlage. Neben den Ausstellungsbereichen hat er dort auch einen seiner Wohnsitze eingerichtet. Dort, bei einem Söllerfenster mit Sitzgelegenheiten, beginnt das folgende Interview, das einige hundert Höhenmeter tiefer enden wird.

SZ: Herr Messner, manche Südtiroler nennen die Abtrennung von Österreich noch heute illegal und den Kriegseintritt Italiens einen Verrat. Was sagen Sie?

Reinhold Messner: Verrat war es nicht. Italien hatte ja nur eine Beistandspflicht gegenüber Österreich im Falle eines Verteidigungskrieges. Aber Österreich hatte - mit deutscher Ermunterung - Serbien angegriffen mit den bekannten Folgen.

Ungerecht war die Teilung Tirols aber schon, oder?

Ungerecht ja, aber nicht ungesetzlich. Im Krieg ist leider wenig illegal und Gebietsverluste schon gar nicht. Unsere Zeit bei Italien beginnt nach dem Ersten Weltkrieg, seit genau hundert Jahren sind wir Kriegsbeute.

Wie kommen Sie denn darauf?

Weil Südtirol 1914/1915 schon längst als Kriegsbeute ausgehandelt wurde. Es war ein Kuhhandel zwischen Rom und London. Die Entente - Großbritannien, Frankreich und Russland - versprachen 1915 Italien österreichische Gebiete, darunter auch Tirol bis zum Brenner.

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Südtirol wurde während des Krieges nicht erobert, obwohl Rom einen schnellen Einmarsch geplant hatte. Waren Ihre Großväter damals mit zur Stelle, um die Italiener zu stoppen?

Meine Opas waren Soldaten im Ersten Weltkrieg. Zuerst auf dem Balkan. Als Italien der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn im Mai 1915 den Krieg erklärte, waren unsere wehrtauglichen Männer zum Großteil schon eingezogen. Es waren also nur die Älteren da und Jugendliche. Bis reguläre Truppen kamen, haben vor allem Standschützen - Bergbauern und Bergführer - es geschafft, die Italiener aufzuhalten.

Wie ist ihnen das gelungen?

Mit Mut, Ausdauer, Tricks. Sepp Innerkofler ist dabei meine Lieblingsgestalt. Er war ein exzellenter Bergführer und besaß im Fischleintal ein Hotel. Bei Ausbruch des Gebirgskrieges erkannte dieser Innerkofler, dass man schnellstmöglich die Bergspitzen sichern muss. Also stieg er mit der "fliegenden Patrouille" schneller als die Italiener auf die Sextener Dolomitengipfel. Von Gipfel zu Gipfel. Von einem schossen sie in die Luft, auf anderen machten sie Feuer. Der Bluff funktionierte. Die Italiener glaubten, dass die Österreicher die Grenze besetzt hätten. Leider hat Innerkofler den Krieg nicht überlebt.

Was ist mit ihm passiert?

Alpini hatten den strategisch wichtigen Paternkofel besetzt. Vom Gipfel aus liegt das ganze Sextental ungeschützt da, auch das Pustertal kann man von dort einsehen. Innerkofler wusste, wenn die Italiener oben bleiben, ist Sexten verloren. Die reguläre Führung hat zuerst dann den "Sepp" herausgefordert. Mit wenigen anderen Bergführern ist er in der Dunkelheit rauf, um die Italiener auszuheben.

Und dann?

Dann ... ( Messner redet nicht weiter, seine Augen werden feucht)

Ihnen kommen ja Tränen.

Sorry, es ist die Empathie, wenn ich davon erzähle. Es fühlt sich so real an, als ob ich selbst jetzt dabei gewesen wäre. Innerkofler hat seine Begleiter in sicherer Position zurückgelassen und ist den Rest alleine weitergeklettert. Dreimal ist er oben aus der Deckung gesprungen und hat jeweils eine Handgranate in die italienische Stellung geworfen. Keine der Handgranaten ging los. Er wurde erschossen. Seine Leiche wurde erst nach dem Krieg geborgen.

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Eine tragische Geschichte.

Ja, sehr tragisch. Ich bin gegen Krieg. Innerkofler aber führte damals einen berechtigten und nachvollziehbaren Abwehrkampf. Es gab übrigens auch Fälle, in denen sich die befreundeten Bergführer von Südtiroler und italienischer Seite auf den Gipfeln getroffen und gemeinsam Brotzeit gemacht haben. Das durfte dann natürlich kein General erfahren.

Das Bild der Gebirgskrieger - ob sie nun Kaiserjäger, Alpini oder Gebirgsjäger heißen - ist romantisiert. Wie sah vor 100 Jahren der Kampf in eisigen Höhen denn tatsächlich aus?

Es war ein Stellungskrieg im Hochgebirge. So wie an der Westfront verschoben sich die Linien kaum. Die meisten Soldaten starben dort nicht durch Feindeinwirkung, sondern durch Lawinen und andere Naturgewalten.

In ihrem Buch Überleben schrieben Sie: "Faschismus machte den Alpinismus zum Ersatzkrieg." Wie meinen Sie das genau?

Es geht um den Nationalismus zwischen den Weltkriegen und auch danach. Allen voran Mussolini und das Nazi-Regime missbrauchten das Bergsteigen. Als Kampf von Männern gegen die Natur, zwischen den Völkern. Stilisiert zum Ideal der Kameradschaft wurde die Bergkameradschaft militärisch verbrämt zu einer verlogenen Kitsch-Kameradschaft. Die Nationalisierung des Alpinismus beginnt allerdings früher und zwar schon vor 150 Jahren, am Matterhorn.

Am Matterhorn?

Ja, parallel mit der Erstbesteigung durch die Seilschaft um den Briten Edward Whymper. Bis dahin stiegen vor allem Engländer auf Berge - aus sportlichem Ehrgeiz und wissenschaftlichem Interesse. Beim Matterhorn wurde alles anders: Franzosen, Italiener und Schweizer träumten plötzlich davon, die eigene Fahne auf dem Gipfel zu sehen. Whymper und seine Leute haben übrigens nur einen Pickel mit einer Windbluse dort oben gehisst.

Sie beschreiben das Geschehen vor 150 Jahren in ihrem jüngsten Buch "Absturz des Himmels". Beim Abstieg kam es zu einer Katastrophe.

Ein Seil riss und vier der sieben Männer stürzten ab. Whymper hat alle Verantwortung später auf den Bergführer Peter Taugwalder abgewälzt, der damit für den Rest seines Lebens ein gebrochener Mann war. Der Engländer behauptete, der Einheimische hätte mit Absicht das dünnere Seil unter sich verwendet.

Das stimmt nicht?

Nein. Zuerst: Taugwalder hat Whymper das Leben gerettet. Der Brite aber war ein wortgewandter Autor, der der Nachwelt seine Version der Geschichte untergejubelt hat - auf Kosten von Taugwalder. Was Whymper gemacht hat, war eindeutig Rufmord, ein Verbrechen.

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Herr Messner, kommen wir wieder zurück zu Ihrer Heimat. 2015 geht es Südtirol gut, oder?

Relativ gut, ja. Einziger Wermutstropfen: Rom möchte immer mehr von unseren Steuern. Wir haben eine brauchbare Autonomie, die natürlich immer weiter verbessert werden soll. Und wir brauchen gewisse Mittel, um unsere teure Infrastruktur im Gebirge zu erhalten. Wenn wir die Steilhänge nicht pflegen, kommt durch das Wetter oder Verlust am Permafrost viel Gestein herunter.

Wenn Südtirol ein Teil von Österreich wäre, müssten Sie noch mehr Geld abgeben.

Wir hätten vermutlich nur die Hälfte des Landeshaushaltes zur Verfügung, aber auch viel weniger Eigenverantwortung.

Bis zur heutigen Autonomie war es ein langer Weg. Lebt im kollektiven Gedächtnis der Südtiroler noch die Erinnerung an die Jahre der Unterdrückung durch Rom?

Natürlich weiß meine Generation das alles. Die siegreichen Großmächte haben nach dem Ersten Weltkrieg eine Autonomie für Südtirol gefordert. Doch wenige Jahre später kam in Rom Benito Mussolini an die Macht. Der hat einen Pfifferling auf die Südtiroler gegeben und gesagt: die Crucchi italienisieren wir! (Anm. d. Red: crucchi , Einzahl crucco , ist in Italien eine abwertende Bezeichung für deutschsprachige Menschen. Das Wort ist abgeleitet vom kroatischen kruh , das Brot bedeutet). Man durfte damals in Schulen und in Ämtern nicht mehr Deutsch reden, viele Süditaliener wurden in Bozen angesiedelt.

Die Diktatoren Adolf Hitler (li.) und Benito Mussolini bei einem Treffen am Brenner im März 1940. (Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

1939 folgte der Pakt der Teufel: Die Diktatoren Mussolini und Hitler stellten die Bevölkerung vor die Wahl: Entweder die deutsche Sprache ablegen und hierbleiben oder für die Auswanderung ins "Reich" optieren.

Diese Option war furchtbar, zuletzt unser großer Fehler. Darüber zu reden ist in Südtirol schwierig. Bis heute ein Tabu, das unsere Geschichte verfälscht. Sie wird noch immer nicht sauber erzählt. Dabei ist es keine schlimme Geschichte. Die Option bleibt wie eine Erbschuld, solange wir sie nicht aufarbeiten.

Warum spricht man kaum darüber?

Weil die allermeisten Südtiroler damals bereit waren, ihre Heimat aufzugeben. Weit mehr als 80 Prozent haben für die Auswanderung optiert. Obwohl 1939 - aus Verantwortung? - eine Südtiroler Delegation nach Berlin gefahren war und von SS-Chef Heinrich Himmler gehört hat, was das Regime mit den Südtirolern vorhatte: Die Bergbauern sollten in die Karpaten umgesiedelt werden, die Weinbauern auf die Krim.

Aber diese Regionen gehörten 1939 ja gar nicht zum Deutschen Reich.

Eben! Aber die Delegierten hatten nicht den Mut zu widersprechen und zu sagen: 'Diese Gebiete gehören doch nicht zum Reich. Steht uns ein Krieg bevor? Ködert uns die Propaganda als Soldaten?'

"Nationalismus - auch Lokalpatriotismus - ist mir ein Gräuel. Nicht nur beim Bergsteigen." - Reinhold Messner (Foto: DERKEVIN.COM // Kevin McElvaney)

Sie haben vor mehr als 30 Jahren dieses heikle Thema angesprochen und wurden daraufhin massiv angefeindet.

Es war wie im Mittelalter. Ich wurde auf offener Straße bespuckt, mein Auto wurde beschmiert, ich wurde überfallen. Dass man mich nicht umgebracht hat, ist Glück. Nur weil ich auf die typische Südtiroler Heimatliebe hingewiesen habe.

Was ist damals genau geschehen?

Nach meiner Everest-Besteigung hat die Politik in Villnöß getönt: Messner hat das für Südtirol gemacht, unsere Fahne auf das Dach der Welt getragen. Darauf habe ich nur gesagt: Meine Fahne bleibt das Taschentuch. Als Reaktion wurde ich in der Zeitung als Nestbeschmutzer und Heimatverräter hingestellt. Ein italienischer Journalist konfrontierte mich damit und ich antwortete: "Wenn wir über Heimatverrat reden, sollten wir über die Option sprechen." Damit brach die Hasswelle erst richtig los. Also alles meine Schuld.

Haben Sie Ihre Aussagen bereut?

Nein, überhaupt nicht. Ich bestehe darauf: Die Wahrheit, auch wenn sie unbequem ist, ist die Verdichtung von Fakten. Ich lasse mich politisch nicht instrumentalisieren. Ich hatte schon immer meinen eigenen Kopf und behalte ihn auch. Nationalismus - auch Lokalpatriotismus - ist mir ein Gräuel. Nicht nur beim Bergsteigen.

Messner schaut auf die Uhr. Er muss weg, in wenigen Minuten soll er einen Vortrag vor einer Besuchergruppe halten. Das Ganze soll im Schlosswirt ein paar hundert Höhenmeter unterhalb stattfinden. Messner geht mit seinen Gästen aus der Pforte, eilt im Regen in bemerkenswertem Tempo den steilen Weg zum Tor hinab und verschwindet aus dem Blickfeld.

Im Schlosswirt, eineinhalb Stunden später. Messner hat frei gesprochen, seine deutschen Zuhörer belagern den Bergsteiger. Nachdem alle Fotos gemacht und alle Autogramme gegeben sind, setzt sich Messner an einen Tisch, die Bedienung stellt eine Karaffe Quellwasser auf den Tisch. Das Gespräch kann weitergehen.

Herr Messner, lassen Sie uns über Identität sprechen. Als was fühlen Sie sich?

Ich bin Südtiroler, Europäer, Weltbürger. In dieser Reihenfolge. Ich habe keine Probleme mit der Identität.

Steckt noch Österreich in Südtirol?

Nun ja, es gab das Kaiserreich und wir waren dabei. Unterwürfig, sehr unterwürfig, immer wieder einmal verraten...

Dem Kaiser treu und wehrhaft gegen Eindringlinge.

Bei Andreas Hofer gegen die Franzosen und die Bayern war der Widerstand mehr religiös motiviert. Die Wittelsbacher bekamen von Napoleons Gnaden dafür die Königswürde. Den Tirolern hat der militärische Widerstand am Ende nur Leid gebracht. Aufgeklärt waren wir nicht.

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Etwa 100 Jahre später - 1919 - kam Ihre Heimat zu Italien als Kriegsbeute.

Wahrlich nicht die Schuld der Südtiroler!

Waren Sie als Jugendlicher Italien gegenüber feindlich eingestellt?

Als Schulbub gewiss. Wurden wir doch als Crucchi beschimpft.

Wie zeigte sich die Feindschaft?

In der Schule wollten wir deshalb die italienische Sprache nicht lernen, das "Welsche" war verpönt. Umgekehrt waren in den Tälern die Kinder des italienischen Straßenkehrers oder des italienischen Postboten arm dran. Sie wurden von uns schlecht behandelt. Mea culpa, wir haben wenig Toleranz gezeigt. Das Antiitalienische hat sich bei mir zum Glück bald und völlig verloren. Ich spreche gern Italienisch und fast genauso gut wie Deutsch. Erst durch die Mehrsprachigkeit hat Südtirol heute eine Brückenfunktion und vor allem Vorteile.

100 Jahre nach dem Beginn des Gebirgskrieges ist also die Spannung vorbei.

Leider gibt es rechtslastige Gruppierungen, auch italienisch-nationalistische. Die Mehrheitspartei aber, die Südtiroler Volkspartei, eine Art liberale CSU, ist längst nicht mehr rechts. Sie ist in der Mitte angelangt, sie stellt den Landeshauptmann und ist wählbar.

"Ich frage mich oft: Wann schaffen wir den Bundesstaat Europa?" - Reinhold Messner (Foto: DERKEVIN.COM // Kevin McElvaney)

Verorten Sie sich politisch immer noch als grün-liberal?

Mehr liberal als grün.

Was bedeutet das?

Ökologisch und ökonomisch verantwortlich handeln und gleichzeitig als Bürger Freiheiten verteidigen. Der Staat hat uns Bürgern viel Freiraum genommen, Europa ist überreguliert. Wer gestalten will, muss sich durch Papierberge ackern mit Anwälten und Architekten. Wem vergeht dabei nicht die Lust an Projekten? Nachhaltige Arbeitsplätze aber schafft nie der Staat, sondern die schaffen die Kreativen!

Also finden Sie Bürokratie schlecht?

Nicht generell, wir in Südtirol aber haben eine wuchernde, eine mehrschichtige Bürokratie: eine aus Brüssel, eine aus Rom, eine aus Bozen. Letztere verbietet die Hälfte von dem, was Brüssel erlaubt. Ich frage mich oft: Wann schaffen wir den Bundesstaat Europa? Schon als Europaabgeordneter habe ich gesagt: Die Kunst ist, nicht noch mehr Gesetze zu machen, sondern Regeln wegzukicken.

Ihre fünf Jahre im Europaparlament, waren das für Sie gute Jahre?

Ja, weil ich viel gelernt habe. Ich traue mir zu, mich überregional zu äußern. Meine Glaubwürdigkeit ist erst mit dem Ausscheiden wieder gewachsen. Eine besondere Erfahrung war der Wahlkampf.

Inwiefern?

In Padua hatte ich früher vor 1000 Leuten und mehr über meine Expeditionen gesprochen. Im Wahlkampf wollten mich dann weniger als zehn Leute sehen. Ein Journalist fragte mich damals, warum ich mir das antue.

Eine naheliegende Frage.

Kaum war ich nicht mehr im Parlament, war alles wie vorher. Als einfacher Bürger habe ich heute mehr Glaubwürdigkeit als damals. Die reicht mir voll und ganz.

Die EU kommt nicht aus der Krise. Hat das Projekt Europa noch eine große Zukunft?

Ja, es ist vital, lebensfähig und zukunftsfähig. Ein Friedensmodell. Europa muss nur endlich zu einem Bund verschmelzen. Ich meine keinen zentralistischen Riesenstaat, sondern die Summe von Regionen, Kantonen und Bundesländern: Die Vereinigten Regionen von Europa. Wir Südtiroler säßen dann nicht mehr zwischen den Stühlen, wir würden vielleicht sogar zu einer Region namens Tirol zählen, wir wären Europäer und Tiroler, wie vor 100 Jahren.

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Dieses Modell würde die Grenzziehung nach dem Ersten Weltkrieg rückgängig machen.

Innerhalb eines Europas der Regionen gibt es keine nationalen Grenzen, nur regionale Verantwortung, gemeinsame Werte, gleiche Wettbewerbsbedingungen und Solidarität.

Vorausgesetzt die EU entwickelt sich in diese Richtung: Wie viel Zeit, glauben Sie, wird noch vergehen?

Die Nationalstaaten müssen sich innerhalb der nächsten 50 Jahre verflüchtigen. Wenn es erreicht ist, bedeutet es für alle Europäer ein Mehr an Lebensqualität, bessere Chancen, wenn auch kein freieres Dasein als Bürger. Voraussetzung bleibt, die Nationalstaaten treten langsam zurück und geben noch mehr Macht ab: Kompetenzen an das gemeinsame Ganze in Brüssel und an die kleineren, "autonomen" Strukturen. Gleichzeitig würde das die kleineren Strukturen stärker machen, die Regionen, in denen die Bürger oft auch direkt abstimmen sollten. Europa ist zu groß, um alles basisdemokratisch zu regeln.

Momentan sind wir davon weit entfernt, wie die Griechenlandkrise zeigt. Sollten die Regionen sich lieber um sich kümmern?

Nein, natürlich nicht wieder allein. Ein Deutscher soll nicht nur deutsch denken. Er muss auch Empathie für andere Europäer empfinden - für die Griechen zum Beispiel. Ich finde Schäubles Position in dieser Frage richtig. Er sieht über das momentane Europa hinaus. Wir Europäer müssen lernen, neue Wege zu gehen. Wenn ein Land Schwäche zeigt, sind Solidarität und Selbstverantwortung gleichzeitig gefragt.

Das müssen Sie genauer erklären.

Ich meine, was in Gemeinden ab und zu passiert. Wenn der Bürgermeister versagt, holt man einen kommissarischen Bürgermeister und alle zusammen bauen das Gemeinwesen neu auf. Alle können und wollen dabei mithelfen, ist es doch das ihre.

"Von Europa darf der Rest der Welt noch einiges lernen, ohne dass wir das ex cathedra verkünden." - Reinhold Messner (Foto: DERKEVIN.COM // Kevin McElvaney)

Im Falle von Griechenland wären das etwa die Implementierung eines funktionierenden Steuersystems und ein Katasteramt.

Genau. Natürlich müsste man all das machen, ohne am Stolz der Griechen zu kratzen. Nur wenn wir uns alle als Europäer fühlen, sind wir solidarisch zueinander und kreativ als Individuen.

Gibt es auch Gründe, stolz auf Europa zu sein?

Aber ja. Wir dürfen stolz sein auf die Summe der Kulturen, auf die Kreativität der Europäer, auf die Summe der vielen Regionen, auf die regionalen Besonderheiten, auf die Unverwechselbarkeit der einzelnen Gegenden. Und wir dürfen stolz sein auf unsere Sozialpolitik, auf unsere Ökopolitik, auf unsere Friedenspolitik. Da darf der Rest der Welt noch einiges lernen, ohne dass wir das ex cathedra verkünden. Wir dürfen, ja wir müssen diese positiven Werte exportieren.

In der Vergangenheit war das eher der Anspruch der Vereinigten Staaten von Amerika.

Die Amerikaner können derzeit Demokratie kaum glaubwürdig nach außen tragen. Und daran wird sich nichts ändern, solange es Guantánamo gibt. Barack Obama ist angetreten mit dem Spruch: "Yes, we can." Allzu viel hat er dann doch nicht gekonnt, nur wenig umgesetzt. Nur am Umsetzen werden Politiker gemessen.

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