Süddeutsche Zeitung

Finanzpolitik in der Weimarer Republik:Als die Bürokraten sich selbst ermächtigten

Stefanie Middendorf zeigt in einer fulminanten Studie, wie das Reichsfinanzministerium in der Weimarer Demokratie von Anfang an mit Notmaßnahmen und Ausnahmeregelungen agierte - was den allermeisten Beamten 1933 einen geschmeidigen Übergang in die NS-Diktatur ermöglichte. Das "Regieren in einer Hand" hatte man vorher ja schon jahrelang eingeübt.

Von Rudolf Walther

Carl Schmitts Diktum aus der "Politischen Theologie" von 1922, wonach "souverän ist, wer über den politischen Ausnahmezustand regiert", wird mittlerweile beliebig herzitiert. Der Begriff "Ausnahmezustand" wird dadurch entkontextualisiert und enthistorisiert und bezieht sich auf alles und nichts von der politischen Welt Spaniens im 17. Jahrhundert bis zu den Zuständen in den Konzentrationslagern im 20. Jahrhundert. Die Historikerin Stefanie Middendorf gibt dem Begriff in ihrer brillanten Habilitationsschrift schärfere Konturen und historische Präzision, indem sie ihn auf mehr als 500 Seiten über die Ministerialbürokratie des 1919 gegründeten Reichfinanzministeriums (RFM) akribisch auf seine Spezifik befragt. Diese besteht in der "genuinen Beziehung zur formellen Ordnung des Rechts" und grenzt sich ab vom "Pathosbegriff", der fast alles umfasst, was irgendwie davon abweicht. In der engeren Bedeutung bezog sich der Begriff Ausnahmezustand auf eine Form staatlicher Krisenbewältigung, die die Autorin im Anschluss an Arbeiten des Staatsrechtlers Günter Frankenberg als "Staatstechnik" begreift. Diese bewegt sich im Spannungsfeld von Politik, Recht, Führung und Verwaltung, Maßnahme und Gesetz.

Man verstand sich als politisches Ressort

In "Macht der Ausnahme" soll laut Verlag gezeigt werden, "dass die technokratische Praxis von Staatsverwaltungen als eminent politische Dimension einer Geschichte des Regierens zu verstehen ist." Und in der Tat: Das RFM zeichnete sich in der Weimarer Republik nicht durch weitsichtige Pläne und Konzeptionen aus, sondern reagierte situativ flexibel auf politische Konstellationen und nutzte Handlungsspielräume mit Ad-hoc-Lösungen und Ausnahmeregelungen. In diesem Sinne verstand sich das RFM immer als politisches Ressort und nicht als Fachressort. Man war also keine politikfern-unpolitische Behörde bzw. Verwaltung im idealtypischem Sinne Max Webers, die angeblich erst 1933 plötzlich der Ideologisierung und Politisierung anheimfiel. 1933 musste das Personal des RFM, von einigen rassistisch bedingten "Säuberungen" abgesehen, deshalb auch nicht radikal ausgetauscht werden. Die Bürokratie im RFM erlebte 1933 nicht als Bruch, vielmehr als schleichenden Übergang vom Ausnahme- in den Dauerzustand der Ausnahme oder als Aufbruch in eine andere Zeit.

Stefanie Middendorf - die nun an der Uni Jena Geschichte lehrt - verarbeitet in ihrer durch Breite und Tiefe beeindruckenden Monografie nicht nur den riesigen Aktenbestand des Reichsfinanzministeriums, des Reichsrechnungshofs und des Reichswirtschaftsministeriums im Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde, sondern auch die Nachlässe der wichtigsten zehn Beamten im Reichsfinanzministerium im Koblenzer Bundesarchiv.

Geprägt von der Kriegserfahrung

Doch von Anfang an: Mit dem Wahlsieg der SPD bei den Reichstagswahlen 1912 kam Bewegung in die Finanzpolitik des Kaiserreichs. Die Wehrvorlage von 1913 sah eine bislang den Ländern vorbehaltene direkte Steuer für das Reich vor in Form einer einmaligen Vermögensabgabe, die von den konservativen Parteien vehement als "Konfiskation" bekämpft wurde. Die Forderung nach einem Reichsfinanzminister anstelle des Reichsschatzsekretärs im Reichsschatzamt blieb jedoch unerfüllt. Erst 1916 stellte man die Kriegsfinanzierung mit der Einführung einer allgemeinen Umsatzsteuer und einer Branntweinsteuer auf eine neue Basis.

Auch die Pläne für den Umbau des bescheiden ausgestatteten Reichsschatzamtes zum RFM stammen noch aus dem Kaiserreich. Die Ministerialbürokratie in der neu entstandenen Demokratie sah sich von Anfang an vor die Aufgabe gestellt, die Existenz des Staates mit allen legal zur Verfügung stehenden Mitteln zu retten. Vielen Beamten erschien es deshalb schon früh als legitim, in Notfällen außer auf Gesetze auf extralegale Notmaßnahmen, persönliche Ermächtigungen, Erlasse und Gesetze umgehende Verordnungen zurückzugreifen. Middendorf betont, dass "die dabei verwendete Sprache der Sachlichkeit und entsprechende Logik der Rationalisierung in der Kriegswirtschaft geprägt worden waren", denn das Regieren im Krieg, wie jedes erfolgsorientierte Handeln, konnte sich nicht auf Prozeduren des Debattierens einlassen.

Im Spannungsfeld der Nothaushalte

Bereits das erste Gesetz "über eine vereinfachte Form der Gesetzgebung für Zwecke der Übergangswirtschaft" vom 17. April 1919 wie die darauf folgenden Bemühungen unter der Firma "Verwaltungsvereinfachung" wurden zur Grundlage für spätere Notverordnungen und Ausnahmeregelungen, begründet mit "Zweckmäßigkeitserwägungen" "Prinzipien der Richtigkeit, Vernünftigkeit und der Gerechtigkeit" (Ernst Rudolf Huber). Unter dem Druck der Wirtschafts- und Währungskrise sowie revolutionären Bedrohungen im Inland und den Forderungen von Gläubigerstaaten aus dem Ausland bewegte sich die Finanz- und Haushaltspolitik der jungen Demokratie von Anfang an - und nicht erst in der Weltwirtschaftskrise Ende der 1920er-Jahre - im Spannungsfeld von Nothaushalten und situativ geprägten Prozessen des Übergangs von der Kriegs- zur Friedenswirtschaft, wie die Autorin entgegen älteren Forschungen, etwa des Frankfurter Historikers Dieter Rebentisch hervorhebt.

Bereits die Reichshaushaltsordnung von 1922 installierte nicht nur ein Vetorecht des Finanzministers gegen die Vorhaben der anderen Ressorts, sondern auch einen Haushaltskommissar mit diktatorischen Vollmachten (Friedrich Ernst Saemisch 1869-1945). Seither ist die Spannung von Demokratie und Diktatur in der Politik der Weimarer Republik präsent - trotz der demokratischen Verfassung und den zum Teil erfolgreichen Demokratisierungsversuchen.

Die Gebote der Sachlichkeit, Überparteilichkeit und Rechtsgebundenheit der Verwaltung gehörten für den demokratischen Staatsrechtslehrer Gerhard Anschütz zum "Ethos der Demokratie", auch wenn sie zum Teil für konservative oder rechte Interessenpolitik instrumentalisierbar waren. Wie wenig eindeutig parteipolitische Zugehörigkeiten beim Umbau der Demokratie zur Diktatur erklären, erweist sich anhand der Biografien von Spitzenbeamten des RFM. Große Teile der Beamtenschaft verstanden sich als konservativ im nationalen Sinne wie Johannes Popitz (1884-1945), der 1926 zum alleinigen Staatssekretär im RFM aufstieg. Diese Teile der Beamtenschaft arrangierten sich mit den neuen Verhältnissen, Demokratie und Republik, wenn auch mit Vorbehalten.

Die Demokratie wurde eher geduldet als geliebt

Bis 1929 war Popitz der ebenso intelligente wie intrigante "Herrscher des RFM", der Bernhard Harms, dem Gründer des Kieler Instituts für Weltwirtschaft, als "Künder und Verfechter der Staatsidee und des Gemeinwohls" galt. Schon im Krieg hatte sich Popitz einen Namen als Steuerexperte gemacht. In der Spätphase der Weimarer Republik war er eng mit Carl Schmitt liiert und teilte dessen Kritik am Parlamentarismus und polykratischer Willensbildung. Schon 1931 sah er in der Demokratie nur einen renovationsbedürftigen "Notbau" und insofern eine transitorische Einrichtung. Im Zentrum seines Denkens waberten die Ideen von politischer Homogenität der Nation unter zentraler Führung, was seine Politik später mit jener der Nationalsozialisten leicht kompatibel machte.

In der Staatskrise von 1932, in der auch das Problem des unbefriedigenden Finanzausgleichs zwischen den Ländern, Gemeinden und dem Reich eine wichtige Rolle spielte, profilierte sich Popitz mit dem abenteuerlichen Vorschlag, "die Gewalt der Vielen" zu überwinden. Zu den 65 000 "Vielen" zählte er u.a. Gemeinden, Sozialversicherungsträger, Krankenkassen, Berufsgenossenschaften. Sie sollten ersetzt werden "durch eine wirkliche Regierung in einer Hand". Von solchen Positionen aus war es nach 1933 nur ein Schritt zur Forderung, die "Kopfzahldemokratie" durch eine "Volksgemeinschaft", geführt von einer Elite entschlossener Männer zu ersetzen, wie in von Papens "Kabinett der Barone", das Spielräume für die Zerstörung der demokratischen Ordnung nutzte, die von den von anderen Regierungen geschaffen worden waren.

In dieses Kabinett trat auch der durch Adoption geadelte Lutz Graf von Schwerin Krosigk als Minister ein, was er bis 1945 blieb und dabei jederzeit für die Ermächtigung der nationalsozialistischen Regierung eintrat. Im Gefolge der Weltwirtschaftskrise gelang es der Politik nicht, das wuchernde Notverordnungsregime rechtlich zu formalisieren und zu begrenzen. Schon 1932 kamen auf 59 Notverordnungen nur noch ganze fünf ordentliche Gesetze. Damals wurden die Ermessensspielräume der Verwaltung erweitert und der politische Einfluss von Parlament und Parteien beschnitten, während die Ökonomisierung, d.h. die direkte Einbeziehung von Wirtschaftsinteressen in die Politik, ständig wuchs und den Boden für die autoritäre Überwindung der Demokratie planierte.

"Kampfgemeinschaft" für Hitler

Auf persönliche Intervention Hitlers wurde Fritz Reinhardt (1895-1945) 1933 Staatssekretär unter Krosigk. Er war seit 1926 Pateimitglied, zog eine Fernhandelsschule auf, die etwa 6000 Parteigenossen durchliefen und formierte die Beamten zur "Kampfgemeinschaft" für den Führer. Unter Reinhardt wurde die Vereinfachung des Rechts zum Programm und formalrechtliche Normen zunehmend obsolet. Das Ermessen bemaß sich fortan danach, "was dem Volksganzen nützt" und "als falsch galt, was dem Volksganzen abträglich ist".

Trotz der fast abschreckenden wissenschaftlichen Fülle des Materials gelingt es Stefanie Middendorf glänzend, die Stoffmenge übersichtlich zu sortieren und für historisch-politisch interessierte, etwas Zeit und Geduld aufbringende Leserinnen und Leser transparent darzustellen, was für viele Habilitationsschriften alles andere als selbstverständlich und üblich ist.

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